Wo andere Coder aufhören, geben unsere richtig Gas

Autisten liefern neue Blickwinkel

von - 05.03.2019
com! professional: Weshalb genau diese Branchen?
Weber: Hier fallen viele Daten an, es gibt umfangreiche IT-Infrastrukturen, aber auch starke Reglementierungen. Ein solches Umfeld erfordert Fachleute, die exakt analysieren und prüfen. Nicht zuletzt gibt es in dieser Branche auch große Budgets für umfangreiche Projekte. Die IT-Teams solcher Betriebe sind meist homogen besetzt, also von Männern gleichen Alters und vergleichbarem Ausbildungshintergrund. Wenn man ein bis zwei Spezialisten aus dem autistischen Spektrum in ein solches Team integriert, erhält man ganz neue Blickwinkel.
com! professional: Woran liegt das? Unternehmen beschäftigen ja hauseigene Spezialisten, die sich mit den Systemen und Daten auskennen.
Weber: Unsere Fachleute bringen den Blick von außen mit. Der Hauptgrund ist aber die andere Wahrnehmung von Autisten. Sie denken nicht Top-down etwa in Form von Prozessen, Subroutinen und Code. Stattdessen sehen sie sich gern zuerst den Code an und fügen sich dann selbst ein Bild zusammen, das sie von unten nach oben aufbauen. Sie beschäftigen sich mit den Details und fügen diese oft anders zusammen als Nicht-Autisten. Es entsteht quasi ein anderes Motiv aus den gleichen Puzzleteilen. Wir konnten etwa durch die Umstellung eines automatisierten Testprozesses die Hälfte der darin enthaltenen Abläufe elimi­nieren, da diese redundant wurden. Hierfür stellten wir lediglich das Verfahren um. Es gibt also viele Querdenker bei uns. Lässt man sie frei arbeiten, liefern sie tolle Ergebnisse.
com! professional: Beim Begriff Autismus denke ich an die Serienfigur Sheldon Cooper. Inwieweit begegnen Sie bei Ihrer Arbeit Klischeebildern und auch Vorurteilen?
Weber: Man trifft auf Schubladendenken. Manche sehen in Autisten gar den 'Rain Man', der das Telefonbuch auswendig lernen kann, aber sozial so stark eingeschränkt ist, dass er weder kommunizieren kann, noch sich im Alltag zurechtfindet. So ein Bild bekommt man schlecht aus den Köpfen. Wir haben Mitarbeiter, die eigenständig leben, arbeiten und bei großen Kunden ein- und ausgehen, die zwar sehr begabt sind, aber nicht das Telefonbuch auswendig lernen können oder wollen. Es sind smarte Menschen mit spannenden Eigenschaften, die aber manchmal in der Kommunikation und Interaktion mit anderen anecken. Sie sprechen nunmal alle sehr direkt.
com! professional: Offene und direkte Kommunikation ist doch heute explizit erwünscht in Unternehmen, oder etwa nicht?
Weber: Das heißt es zwar immer, doch das ist selten der Fall. Es passiert, dass ein Kollege einem Kunden sagt: 'Ich habe zwölf Fehler in Ihrer Software gefunden und Ihre Krawatte passt nicht zu Ihrem Jackett.' Auch wenn die Kritik formal berechtigt sein mag, kann nicht jeder mit dieser Offenheit umgehen. Dass jemand direkt und unumwunden seine Meinung äußert, ist man in vielen Unternehmen nicht mehr gewohnt. Obwohl direkt ausgesprochene Kritik Abläufe verbessert.
com! professional: Wie sieht Ihre persönliche Vision für Auticon aus?
Weber: Ich würde mir wünschen, dass es unser Unternehmen in 50 Jahren nicht mehr gibt. Denn dann hätten viele andere Firmen verstanden, wie man Autisten und generell Menschen, die anders denken, direkt rekrutiert. Aber bis dahin dauert es wohl noch eine Weile. Wir sehen ja, dass unsere Kunden feststellen, dass ihnen Mitarbeitende mit Autismus einen deutlichen Mehrwert bringen. Die Unternehmen hätten unsere Mitarbeiter aber nie selbst ein­gestellt, weil beispielsweise das Studium an der ETH Zürich ab­gebrochen wurde - trotz zehn Jahren Programmiererfahrung. Es wäre schön, wenn Firmen feststellen würden, dass nicht immer eine formale Qualifikation oder ein Netzwerk benötigt wird. Wir versuchen, die großen Unternehmen zu motivieren, ein wenig über den Tellerrand zu schauen und mehr Querdenker einzustellen.
Zum Unternehmen
Auticon ist ein internationales IT-Beratungshaus. Das Unternehmen beschäftigt ausschließlich Menschen im Autismusspektrum als IT-Consultants. Trotz des so­zialen Aspekts legt Auticon Wert auf seine marktwirtschaftliche Ausrichtung. In der Schweiz ist das Unternehmen vor rund einem Jahr gestartet und beschäftigt 10 Consultants. Dieses Jahr sollen weitere hinzukommen.
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