Darum muss jede Führungskraft Digital Leader werden

Airline-IT bei der Digitalisierung

von - 02.09.2020
com! professional: Wo steht die Airline-IT bei der Digitalisierung?
Naef: Die Luftfahrt leidet wie die Banken an althergebrachten Prozessen und Strukturen. Beispiel Interline Settlement: Wenn ein Kunde ein Flugticket bei der Swiss bucht, aber nicht alle Flüge von ihr durch­geführt werden, bekommt die andere Gesellschaft einen Teil des Ticketpreises erstattet. Für diese Erstattung betreibt die IATA (International Air Transport Association) ein Clearing House, das den Anteil des Ticketpreises errechnet und der Swiss in Rechnung stellt. Ist der Betrag überwiesen, bekommt die andere Fluggesellschaft das Geld. Diese ganze Organisation ist extrem aufgebläht: Allein für dieses Clearing House arbeiten vermutlich Hunderte von Leuten. Ein Interline Settlement kann schon mal zwei bis drei Wochen dauern, bis das Geld überwiesen ist. Dabei sind die Regeln eigentlich klar definiert und zwischen einigen Fluggesellschaften gibt es auch noch bilaterale Verträge, die den Prozess beschleunigen sollten. Sie tun es aber nicht.
com! professional: Welche Alternative gibt es?
Naef: Während meiner Tätigkeit bei Emirates hatte ich mit zwei weiteren Airlines - Flydubai und Quantas - einen Pilot lanciert: Die Interline-Regeln wurden in Smart Contracts in einer Blockchain-Plattform eines Start-ups abgebildet. Die Lösung erlaubte uns das Interline Settlement in Echtzeit und ohne weiteren Aufwand oder Administration. In dem Moment, in dem das Flugzeug gelandet war, wurde automatisch ein digitaler Vertrag eingelöst und das Geld virtuell von einem Wallet auf das andere gebucht. Die Blockchain hat den Intermediär - das Clearing House der IATA - vollkommen überflüssig gemacht. Als wir die Plattform allerdings propagieren und für andere Airlines öffnen wollten, hat sich die IATA dagegen gewehrt. Denn sie verdienen natürlich viel Geld mit dem Betrieb des Clearing Houses. Nun ist aber der Proof of Concept vorhanden, sodass es eine Frage der Zeit sein dürfte, bis der Widerstand gebrochen ist. Denn in der Luftfahrtindustrie wird viel Geld für ineffiziente Prozesse und Strukturen verschwendet.
com! professional: Welches Szenario sehen Sie für die Luftfahrtindustrie und ihre IT nach der Krise?
Naef: (seufzt) Ich mache mir große Sorgen um die Luftfahrt. Schon kurz nach dem Lockdown standen viele Airlines vor dem Aus. Denn eine Gesellschaft finanziert ihren Tagesbetrieb mit den Geldern, die sie aus dem Ticket­verkauf für die zukünftigen Reisen einnimmt. Die Kosten kann man typischerweise nicht rasch genug senken. Das partielle Groun­ding der Flotte und die Kurzarbeit der Angestellten halfen dabei nur eingeschränkt.
com! professional: Wenn die Flieger wieder abheben - dann mit immens hohen Ticketpreisen?
Naef: Das ist schwierig abzuschätzen. In der Vergangenheit war es so, dass eine Airline hauptsächlich Geld mit den Optimierungsprozessen für die Ticketpreise verdiente. Sprich: Zu welchem Zeitpunkt biete ich welchen Sitzplatz zu welchem Preis an? Die Fluggesellschaften betreiben für die Kalkulation komplexe IT-Systeme. Traditionell wird hier mit linearen Optimierungsmodellen gearbeitet, wobei Faktoren wie saisonale Nachfrage, Schulferien oder Konferenzen einbezogen werden. Zuletzt bahnte sich hier ebenfalls ein Wandel an. Denn es lassen sich Machine-Lear­ning-Algorithmen konstruieren, die weit bessere Resultate liefern als die traditionellen linearen Optimierungs­systeme. Und hier können noch zusätzliche Faktoren, etwa Aktivitäten auf Social Media, einbezogen werden. Start-ups wie Flyr Labs sind mit ihren Algorithmen den traditionellen Methoden massiv überlegen. Andere Start-ups wenden ähnliche Machine-Learning-Konzepte an, um den optimalen Preis für die Kunden vorauszusagen. Die Konsumenten können sich die Differenz erstatten lassen, wenn sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt zu viel bezahlt haben. 
com! professional: Welche Rolle spielt die Firmen-IT beim Übergang in die Normalität?
Naef: Erste Anzeichen für die bedeutendere Rolle der IT in der Zeit nach Corona sehen wir schon: Das Zahlen geschieht heute viel häufiger bargeldlos oder sogar kontaktlos als noch vor dem Lockdown. Geld wird nun auch noch virtualisiert, wie schon so vieles andere nicht mehr als physisches Objekt existiert. Meine These ist, dass in Zukunft noch viel mehr Gegenstände virtualisiert werden. Jedes Objekt, das Information aufnimmt, jedes, das Information speichert, jedes, das Information verarbeitet und jedes, das Information anzeigt, hat das Potenzial, durch ein digitales Pendant ersetzt zu werden. Bei der Kamera, der Banknote, der Rechenmaschine und dem Flugticket ist die Virtualisierung schon geschehen.
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