Resilienz für die Lieferketten

„Unternehmen sollten ihre Abläufe auf den Prüfstand stellen und sich von Unnötigem verabschieden“

von - 31.03.2022
Mittlerweile spricht man in Zusammenhang mit Lieferketten häufig von digitalem Supply Chain Management. Doch was ist daran neu? Und was wird überhaupt alles digital? com! professional spricht darüber mit Paige Cox. Sie ist Senior Vice President und Global Head of Business Network bei SAP.
com! professional: Frau Cox, was verstehen Sie eigentlich unter dem Begriff Supply Chain Management?
Paige Cox, Senior Vice President und Global Head of Business Network bei SAP
(Quelle: SAP )
Paige Cox:
Das Supply Chain Management bündelt und organisiert alle Abläufe, die in einem Unternehmen hinter den Kulissen ablaufen, um Produkte herstellen und ausliefern zu können. Das beinhaltet Einkauf und Bestellung, Fertigung, Bestandsführung, Transport, Logistik und mehr. Damit die gesamte Wertschöpfungskette möglichst reibungsfrei funktioniert, gilt es, die Prozesse effizient zu managen und kontinuierlich zu optimieren.
com! professional: Immer öfters spricht man von einer digitalen Supply Chain und der Optimierung von Lieferketten …
Cox: Bisher waren Lieferketten häufig linear organisiert. Jüngste Ereignisse wie die Covid-19-Pandemie, Naturkatastrophen und die Blockade des Suezkanals im Frühjahr 2021 haben gezeigt, wie anfällig globale Lieferketten sind, und dass der internationale Handel mit traditionellen, fragmentierten Lieferketten nicht länger funktioniert. Die Folge: In unserer globalen, vernetzten Wirtschaft treten belastbare und reaktionsfähige Ökosysteme an die Stelle von Wertschöpfungsketten, die bisher fragmentiert oder undurchsichtig waren.
Um die globale Vernetzung zu stärken, Risiken zu minimieren und ihre Widerstandsfähigkeit zu erhöhen, müssen Unternehmen nicht nur ihre eigenen Abläufe transparenter machen, sondern auch die ihrer Handelspartner.
„Durch die Digitalisierung von Supply-Chain-Prozessen und die Integration in ein zentrales ERP rücken Unternehmen und Lieferanten noch enger zusammen.“
com! professional: Was genau wird denn digitaler?
Cox: Durch die Digitalisierung von Supply-Chain-Prozessen und die Integration in ein zentrales Enterprise-Resource-Planning-System (ERP) rücken Unternehmen und Lieferanten noch enger zusammen und verstärken ihre Beziehungen auf lange Sicht. Digitale Plattformen fördern dabei Kommunikation und Collaboration, machen Abläufe transparent und vereinfachen den Austausch von Informationen. Unternehmen können umfassenden Einblick in die miteinander verknüpften Prozesse von Käufern, Lieferanten und Partnern gewinnen, zum Beispiel in den Bereichen Beschaffung, Logistik, Finanzen oder Personaleinsatz. Knappe Bestände oder Lieferengpässe lassen sich schnell erkennen, sodass Unternehmen und Lieferanten gemeinsam Lösungen für Verzögerungen oder Rohstoffmangel finden können.
Außerdem entlasten digitale Lösungen alle Beteiligten der Lieferkette, indem sie Routineaufgaben und Workflows in der Beschaffung und beim Vertrags- und Rechnungsmanagement automatisieren. Intelligente Assistenten überprüfen über eine zentrale Datenbank sämtliche Dokumente auf landesspezifische Regelungen und Compliance-Konformität. Damit lässt sich der Aufwand reduzieren und Risiken werden frühzeitig sichtbar.
„Von einer digitalen Lieferkette können Großkonzerne und mittelständische Unternehmen gleichermaßen profitieren.“
com! professional: Ist eine digitale Supply Chain nur etwas für große Konzerne oder auch für den kleineren Mittelständler?
Cox: Von einer digitalen Lieferkette können Großkonzerne und mittelständische Unternehmen gleichermaßen profitieren. Weil sie alle vor ähnlichen Herausforderungen stehen, die sich mit der Digitalisierung meistern lassen.
Laut der Konjunkturumfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) belasteten Unsicherheit und Volatilitäten in den Wertschöpfungsketten im Frühjahr 2021 gut 50 Prozent der Firmen – egal welcher Größe. Rund 15 bis 20 Prozent der Befragten berichteten von schwerwiegenden Problemen in ihrem Umfeld. Vor allem die Industrie, aber auch Baufirmen waren betroffen.
„Unternehmen brauchen ein dynamisches Liefernetzwerk, das im Gegensatz zu traditionellen Lieferketten dank einer Many-to-many-Struktur eine 360-Grad-Sicht ermöglicht.“
com! professional: Unternehmen müssen sich über traditionelle Lieferkettenmodelle hinaus innovativer aufstellen …
Cox: Unternehmen brauchen ein dynamisches Liefernetzwerk, das im Gegensatz zu traditionellen Lieferketten dank einer Many-to-many-Struktur eine 360-Grad-Sicht ermöglicht. Sobald ein Unternehmen an ein Netzwerk angeschlossen ist, wird es sowohl zum Käufer als auch zum Lieferanten und erhält einen umfassenden Einblick in die vernetzten Abläufe seiner Handelspartner.
com! professional: Und welche Rolle spielen dabei die Themen Künstliche Intelligenz und Data Analytics?
Cox: Mit KI und Data Analytics können Unternehmen einen Datenschatz heben. Mit Predictive Analytics erkennen sie zum Beispiel weit im Voraus wichtige Markttrends. Die auf Algorithmen basierenden Vorhersagen speisen sich aus Informationen der Supply-Chain-Partner und weiteren externen Quellen. So werden Unternehmen nicht mehr von Lieferengpässen oder Verzögerungen überrascht.
Die einheitlichen, zentral verfügbaren Daten eines Business-Netzwerks können Unternehmen nutzen, um gemeinsam Produkte zu entwickeln, Arbeitsabläufe zu bündeln oder flexible Lösungen für das Personalmanagement zu finden.
Des Weiteren können sich die Partner hinsichtlich der Logistik abstimmen, um Transportmittel besser auszunutzen und Leerfahrten zu vermeiden. Nicht zuletzt tragen netzwerkweite, transparente Informationen dazu bei, ökologische und soziale Ziele gemeinsam schneller zu erreichen.
com! professional: Ohne Daten geht also nichts mehr. Können Sie ein Beispiel geben, was man mit Daten in einer digitalen Supply Chain konkret machen kann?
Cox: Ein Beispiel sind vom Sturm verwüstete Infrastrukturen, starkes Hochwasser oder Hitzewellen: Extreme Wetterphänomene nehmen im Zuge des Klimawandels deutlich zu. Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie in Zukunft agilere und flexiblere Lieferketten brauchen, um sich auf die Effekte von Natur- und Klimakatastrophen einzustellen.
Mit Location Intelligence und wetterabhängigen Bedarfsanalysen können Unternehmen ihre Supply Chain vor negativen Effekten schützen. Um sich auf die künftigen Klimaszenarien einzustellen, brauchen sie bessere Analysemöglichkeiten und ein deutlich weiter gefasstes Supply Chain Risk Management. Das geht nur mit der richtigen Technologie: Um mit den Informationen der Lieferanten, Kunden, Partner und Wetterdienste ganzheitliche, belastbare Prognosen zu erstellen, sind nahtlos integrierte Datensysteme gefragt. Auf diese Weise können Logistikexperten frühzeitig etwaige Geo-Risiken erkennen und ihre Lieferketten gezielt anpassen.
com! professional: Was sind für Unternehmen die größten Herausforderungen bei der Digitalisierung der Lieferketten?
Cox: Die Prozesse entlang der Lieferkette werden nicht einfacher, sondern immer umfassender und komplexer. Unternehmen sollten ihre Abläufe auf den Prüfstand stellen und sich von Unnötigem verabschieden. Hier können cloudbasierte Lösungen den Unternehmen helfen, bisherige Prozesse zu überdenken und sich zu fragen: Brauchen wir diese Ausnahme wirklich oder können wir vielleicht unsere Geschäftsabläufe so anpassen, dass wir den standardisierten Prozess verwenden können? Eine Cloud-Transformation kann Unternehmen dazu veranlassen, Prozesse entlang der Lieferkette zu durchleuchten und falls möglich zu simplifizieren.
Darüber hinaus besitzen viele Unternehmen heterogene IT-Landschaften, in denen relevante Daten in unterschiedlichen Systemen versteckt sind. Es gilt, solche Silos aufzubrechen und für eine einheit­liche Datenbasis zu sorgen. So gibt es unternehmensweit nur noch eine Single Source of Truth, was die Transparenz in der Lieferkette erhöht.
com! professional: Sie haben das Thema Naturkatastrophen angeprochen. Welche Rolle spielt das Thema Nachhaltigkeit in Bezug auf Lieferketten?
Cox: Klima- und Umweltschutz, soziale Verantwortung und nachhaltiges Handeln gehören zu den dringlichsten Themen, mit denen wir uns heute beschäftigen. Die UN-Klimakonferenz (COP26) hat 2021 Vertreter:innen aus fast 200 Ländern im Kampf gegen den Klimawandel zusammengebracht. Unternehmen müssen Veränderungen vornehmen, um der Umwelt zu helfen und sich an ethische Grundsätze zu halten.
Die Digitalisierung spielt eine große Rolle bei der Entwicklung einer langfristigen Strategie, die ökologische, soziale und ethische Faktoren in allen Prozessen der Wertschöpfungskette abbilden kann.
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