Standpunkt

Ökonomischer Blindflug

von - 09.11.2022
Foto: Shutterstock / PopTika
Wo steht Deutschland im Digitalen? Niemand traut sich, das zu sagen. Selten war Wirtschaftspolitik so ahnungslos wie heute.
Die Wissenschaft der Ökonomie folgt Moden, die mit politischen Geschehnissen wechselwirken. Der wissenschaftliche Erfolg des Neoliberalismus profitierte von den Wahlerfolgen von Thatcher und Reagan – und umgekehrt. Das aktuelle Problem ist: Die ökonomischen Modelle scheitern beim Erklären der digitalen Wirtschaft. Die Politik agiert entsprechend hilflos.
In Deutschland sind sogar die Beiträge der Soziologie erhellender als jene der Ökonomie. Am nächsten dran am Thema Digitalisierung sind derzeit jene Ökonom*innen, die das Fehlen passender theoretischer Ansätze ausdrücklich thematisieren. Etwas weiter weg, aber noch in Wirklichkeitsnähe, sind einige Stars der Szene, die zum Beispiel „Digital by Design“ statt „Digital by Default“ (Mark Carney) verlangen. Daneben gibt es aber viele skurrile Diskussionsbeiträge, denen zufolge beispielsweise entweder IT die Produktivität nicht erhöht oder eine exzellente IT keinen Wettbewerbsvorteil darstellt. Ersteres ist immerhin Ausdruck von ernsthaften Analysen mit veralteten Modellen, Letzteres nur mehr populistisches Ressentiment.
Natürlich darf jeder daran glauben, dass die Erde eine Scheibe ist. Nur wenn dies dann das wirtschaftliche Handeln beeinflusst – sei es in Unternehmen, sei es auf politischer Ebene –, dann wird es ungemütlich. Die vielfältig negative Berichterstattung über die digitale Transformation – von der Trivialisierung durch Praktiker*innen über die Marginalisierung durch Stars der Buchszene bis hinzu den allgegenwärtigen Attacken der Ethiker*innen – hat Folgen. Wichtige Projekte werden gebremst oder ganz aufgeschoben. Die Führungskräfte durchlaufen nicht die dringend notwendigen Weiterbildungen. Und die Politik tut nichts.
Die Arbeitsverweigerung kann man den Politiker*innen nicht wirklich anlasten. Sie bekommen keine konsistenten Signale aus der Wissenschaft. Die kann ihnen nicht einmal erklären, wie schädlich die digitale Rückständigkeit für Deutschland ist. So eindeutig die wissenschaft­lichen Aussagen zur Nachhaltigkeit sind, so divers und beliebig sind sie derzeit zur Digitalwirtschaft. In einer Lage, in der der Hut an mehreren Ecken brennt, hat dies Nichthandeln in Sachen Digitalwirtschaft zur Folge. Denn natürlich konzentriert man die politischen Aktivitäten lieber auf jene Bereiche, wo entweder die Risiken offensichtlich sind oder die Wissenschaft ein klares Bild der langfristigen Entwicklungen zeichnet.
Darum in aller Kürze: Offen ist, ob es in Zukunft noch Unternehmen braucht. Offen ist, ob eine digital rückständige Verwaltung Korruption und Machtmissbrauch vermeiden kann. Sicher ist, dass große Umstrukturierungen der Wirtschaft stattfinden und der Reichtum weltweit umverteilt werden wird. Liebe Politikschaffende, tut darum wenigstens das offensichtlich Dringliche – Infrastruktur verbessern, Verwaltung modernisieren, Bildung stärken – statt abzuwarten, bis euch irgendwann die Ökonomie die Welt neu erklärt!
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