KI schafft Chancen für den Mittelstand

Intelligente Fasern

von - 12.12.2019
Optimierte Shop-Gestaltung: Das Unternehmen Future-Shape visualisiert in einer Heatmap die Besucherströme in einem stationären Handelsgeschäft.
(Quelle: Future-Shape GmbH)
Der Mittelstand brauche „Unterstützung beim Transfer von Forschung in die Praxis“, so Mareike Giebeler, Leitung Digitale Innovationen und Start-ups beim Gesamtverband textil+mode. Als nächsten Entwicklungsschritt stellt sich Giebeler in der Modebranche die tragbare KI vor. Textilien als Datensammler und eine mobile Schnittstelle zur Anbindung an KI-gestützte Assistenzsysteme sollen ein im doppelten Sinn „hautnahes“ Erlebnis von KI im Alltag ermöglichen.
Wie die deutsche Textil- und Bekleidungsbranche dank KI auch in Zukunft im internationalen Wettbewerb führend sein kann, zeigte exemplarisch die Fachtagung des Mittelstand-4.0-Kompetenzzentrums „Textil vernetzt“ im Mai dieses Jahres auf der Messe „Techtextil“ in Frankfurt. Hinter dem Kompetenzzentrum stehen unter der Leitung des Gesamtverbands textil+mode vier Partner: die erwähnten Deutschen Institute für Textil- und Faserforschung (DITF), die Hahn-Schickard-Gesellschaft für angewandte For­schung aus Villingen-Schwenningen, das Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen University (ITA) und das Sächsische Tex­tilforschungs­institut (STFI). Textil vernetzt ist Teil des Förderschwerpunkts „Mittelstand-Digital“, der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) initiiert wurde, um die Digitalisierung in KMUs und dem Handwerk vo­ran­zutreiben.
Neuronale Netze und KI sollen Bekleidungshersteller in die Lage versetzen, ihre Produktionsabläufe bedarfsgerechter auf die verschiedenen Formen des menschlichen Körpers einzustellen, erklärt Thomas Fischer von den DITF. Auf der Fachtagung zu sehen waren einige KMUs der Modebranche, in denen KI-Systeme bereits zum Einsatz kommen. Beim Berliner Taschenhersteller bagjack e.K etwa nutzen Mitarbeiter mobile Assistenzsysteme, um flexibler auf Kundenaufträge zu reagieren. Und die pro4tex GmbH plant die Implementierung von KI-gestützten Greifersystemen für das automatische Annähen von Textilien.
KI-Anwendungen für KMUs
KI-Anwendungen: Intelligente Automatisierungen gelten für KMUs als sehr relevant, Sprachassistenten und Chatbots weniger.
(Quelle: Begleitforschung Mittelstand-Digital, WIK GmbH (n = 32) )
An der „smarten Nutzbarmachung von Textilien“ arbeitet auch das Design Research Lab (DRLab) an der Berliner Universität der Künste. Professorin Gesche Joost und ihr Team befassen sich mit den zentralen Fragen der Mensch-Maschine-Interaktion und neuen Kommunikationsformen der Zukunft mit Hilfe von intelligentem Gewebe. „Unser Ziel ist es, auch mit textilen Wearables die Lücke zwischen technologischer Innovation und dem, was die Menschen wirklich brauchen, zu schließen“, erklärt Gesche Joost.
Damit sich ein neuer Lifestyle-Trend etablieren und weitverbreitete Konsumgewohnheiten aufmischen kann, muss auch ein Buzz-Wort her - vorzugsweise etwas so Eingängiges wie Wearables. Wer den Begriff nur einmal gehört hat, vergisst ihn nicht mehr, denn er steht für alles, was sich im weitesten Sinne tragen lässt, von vernetzten Textilien über funkfähige Jogging-Schuhe und Bergsteiger-Rucksäcke mit GPS-Positionssignal bis hin zu Smartwatches und dergleichen mehr.
Weniger einprägsam ist der Begriff „handlungsfähige“ Stoffe, obwohl diese Stoffe aus intelligenten Fasern ein breites Spektrum an KI-freundlicher Funktionalität in tragbaren wie nicht tragbaren Textilien versprechen und damit ähnlich viele Nutzungsszenarien abdecken wie Wearables - von der sensorischen Bauteilüberwachung über die Vitalparameterkontrolle, von Warnfunktionen in Berufsbekleidung über die Energierückgewinnung (aus Wärme oder Kälte) bis hin zur textilen Aktorik.
Von Aktorik ist die Rede, wenn reale Objekte nicht nur elektromagnetische, mechanische oder andere physikalische Informationen erfassen (und gegebenenfalls an digitale KI-Systeme weiterleiten), sondern diese auch gleich selbst in Reaktionen umwandeln. So kann sich etwa die Schutzweste eines Bauarbeiters beim Sturz aktiv in einen Airbag verwandeln (und vielleicht gleich noch via Funk Hilfe rufen). Was wie aus einem Science-Fiction-Film klingt, ist tatsächlich schon realisiert worden im Rahmen einer Forschungskooperation von Dream2Lab2Fab und dem Institut für Textiltechnik ITA der RWTH Aachen.
Harald Christ
Harald Christ
Unternehmer, Manager, ­Aufsichtsrat, Politiker
https://christund
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Foto: Christ
„Wer Weltmarktführer bleiben will, braucht Künstliche Intelligenz.“
Ein neues Anwendungskapitel für intelligente Textilien schlägt auch die Future-Shape GmbH unter Firmenchefin Christl Lauterbach nach rund zehn Jahren Forschung an intelligenten Sensorböden und -matten auf. Das Unternehmen aus Höhenkirchen-Siegertsbrunn bei München vertreibt großflächige Sensorsysteme, die sich unter Fußboden und Parkett, in isolierender Polyurethaneinbettung sogar unter Fliesen und Marmor wie auch an Wänden und hinter Glas einsetzen lassen. Die Sensorik von Future-Shape kann Messwerte an externe Applikationen zur Ganganalyse übertragen, etwa um die Verweildauer von Besuchern zu messen, die Publikumsströme zu visualisieren oder Notsituationen zu erkennen. Die Lösung kann wertvolle Erkenntnisse zur Shopgestaltung liefern, die Einbruchsicherheit steigern oder auch die therapeutische Betreuungsqualität von sturzgefährdeten Personen verbessern.
Die Grundlagen für Textilintelligenz wurden in Deutschland bereits Mitte der 90er-Jahre gelegt. Die Nachfrage nach faserbasierter Intelligenz steigt aber erst im Zusammenhang mit der KI-Revolution und so nimmt auch der Transfer von Forschungsergebnissen in die Indus­trie gerade jetzt kräftig an Fahrt auf. Und das nicht nur in der Textilbranche. Experten erwarten Impulse aus dieser Entwicklung etwa auch in der Elektronik-, Kunststoff- und Mikrosystemtechnik-Industrie.
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