Kommt das Zweiklassen-Internet?

Netzneutralität soll Fortschritt bremsen

von - 10.06.2015
Joe McNamee, Executive Director, European Digital Rights (EDRi)
Die Gegenauffassung wird in erster Linie von den Netzbetreibern vertreten, die ihre Investitionen in die Bereitstellung der Netze amortisieren oder eigene Angebote bevorzugt transportieren wollen. Sie führen an, eine Verpflichtung zur Netzneutralität verhindere den weiteren Ausbau der Breitbandnetze und führe bei den Verbrauchern zu höheren Anschlussgebühren.
Wirtschaftspolitiker in Europa halten mehrheitlich eine gesetzliche Verpflichtung zur Wahrung der Netzneutralität für entbehrlich, die bisherigen Regeln seien ausreichend. Die Befugnisse, gegen Preisabsprachen und Monopole vorzugehen, seien längst vorhanden. Vom Netzwerkmanagement, etwa in Form der Qualitätsdifferenzierung, werden vielmehr positive ökonomische Effekte erwartet. Es wird davon ausgegangen, dass der Wettbewerb unter den Netz­betreibern für eine Aufrechterhaltung des offenen Internets sorgen wird.
Ein weiteres Argument: Empfindliche Dienste wie etwa Videokonferenzen oder Sicherheitssysteme müssten bevorzugt werden, um reibungslos zu funktionieren. Bei E-Mails hingegen sei es egal, wenn sie etwas später ankommen.
Immer wieder hört man auch, dass sich mit der Regulierung eigentlich ja gar nichts ändern würde – dann wäre sie aber auch nicht nötig.

Interview mit Joe McNamee, Executive Director, Bürgerrechtsorganisation European Digital Rights (EDRi)

com! professional: Ist die Netzneutralität wichtig?

Joe McNamee: Der Kern des Erfolgs des Internets ist, dass jeder mit jedem kommunizieren kann, und das mit dem Best Effort, den das Netzwerk bietet. Dies ermöglicht dem Internet seinen kommerziellen Erfolg, da es die gesamte Welt in einen potenziellen Markt verwandelt. Und es ermöglicht ihm seinen sozialen Erfolg, weil es Ideen verbreiten, Koalitionen bilden und Repressionen ans Licht holen kann. Die Alternative besteht darin, dass man den großen Betreibern erlaubt, von Online-Diensten Geld einzutreiben für den Zugang zu den Kunden des Betreibers. Damit bezahlt der Kunde für den Zugang zum Internet, und der zahlungswillige Teil des Internets bezahlt für den Zugang zum Kunden.

 

com! professional: Wie beurteilen Sie den jüngsten Antrag des Europäischen Rats zur Netzneutralität?

McNamee: Die derzeitige Beschlussvorlage erreicht nicht das selbst gesteckte Ziel, ein offenes, nicht diskriminierendes Internet zu verteidigen. Weite Teile des Textes sind aber solide. Wenn genügend politischer Wille da ist, die Rechte der Internetnutzer, die kleinen Online-Unternehmen sowie Wirtschaft und Innovation zu unterstützen – und nicht die kurzsichtigen und kurzfristigen Interessen einiger großer Betreiber –, dann lässt sich der Text relativ einfach anpassen. Es gibt aber noch etliche Schwachstellen. So soll der Beschluss diversen gesetzlichen Vorschriften gehorchen – und dann folgen Erklärungen, was gesetzliche Vorschriften sind. Dieser Passus sollte gestrichen werden. Da die problematischsten Elemente dieser Erklärungen von Großbritannien und Schweden eingebracht wurden, die gesetzwidrige Internetblockaden und eigenmächtige Zensur betreiben, steht zu befürchten, dass die Absicht dahintersteckt, die Rechtsstaatlichkeit zu unterminieren.

 

com! professional: Was ist EDRi und was sind Ihre Ziele?

McNamee: EDRi (European Digital Rights) ist ein Zusammenschluss von 33 Bürgerrechtsorganisationen aus 19 Ländern. Unsere Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass Bürgerrechte in der Online-Welt respektiert werden, wann immer sie bedroht sind durch Aktionen von Politikern oder privaten Organisationen. Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sind somit unser Kernanliegen.

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