Zurück zur Ingenieurskultur

Der CTO als Jongleur

von - 22.01.2019
Jongleur
Foto: Viktor Hladchenko / Shuttetstock.com
Die "Kunden" des CTO sind die Ingenieure im Team. Um diese zu bedienen ist ein steter Drahtseilakt zwischen Engineering-Qualität und pragmatischer Erfolgsorientierung erforderlich.
Dieser Beitrag wurde von Reinhard Riedl verfasst, wissenschaftlicher Leiter des Departements Wirtschaft der Berner Fachhochschule und Präsident der Schweizer Informatik Gesellschaft.
Der Chefinformatiker oder Chief Technology Officer (CTO) erinnert in vielen Unternehmen an einen Jongleur. Er ist dauernd damit beschäftigt, viele Bälle in der Luft respektive Projekte am Laufen zu halten. Praktisch vom Projektstart an beginnt die Qualität in fast jedem IT-Projekt zu erodieren. Gleiches gilt für alle eta­blierten Prozesse.
Die Ursachen für die Erosionen sind vielfältig. Besonders schlimm ist es, wenn Deadlines nicht ernst genommen, Anforderungen gleich gar nicht gelesen, Algorithmen selber gebastelt, Modelle nicht validiert und verifiziert werden, Code nicht getestet wird – und um­gekehrt irgendwo die Qualität zweckfrei in die Höhe geschraubt wird, Demos immer weiter verbessert werden oder die Release-Geschwindigkeit durch ein Mehr an Kontrollen verlangsamt wird.
Reinhard Riedl
Berner Fachhochschule
www.bfh.ch
Foto: Riedl
„Der CTO erinnert in vielen Firmen an einen Jongleur, der damit beschäftigt ist, viele Bälle in der Luft respektive Projekte am Laufen zu halten.“
Aber auch dort, wo einige dieser Sünden strukturell verhindert werden – beispielsweise durch agile Strukturen –, sind die Anti-Patterns im IT-Alltag zahlreich. Viele interne Prozesse haben eine ungenügende technische Unterstützung und schaffen deshalb eine mise­rable User Experience für die Ingenieure. Dementsprechend werden sie oft ignoriert.

Das höhere Level

CTOs können den Kampf gegen diese Erosionskräfte nicht gewinnen, dürfen ihn allerdings auch nicht verlieren. Was tun? Eine Möglichkeit ist, wie beim Computerspiel, den Kampf auf einem höheren Level zu führen. Manche Unternehmen haben schon vor einem Jahrzehnt begonnen, Arbeitsumgebungen für ihre IT zu schaffen, die besonders erosionsfest sind. Sie haben die Bereitstellung von Infrastruktur, das Testen und das Deployment weitgehend oder gänzlich automatisiert und sichergestellt, dass Entwickler mit Echtwelt-Lasten und unterschiedlichen Konfigurationen testen können. Sie sammeln nicht nur ihren gesamten Quellcode in einem Repositorium, sondern ihre Ver­sionsverwaltung stellt zentral alle relevanten Informationen für Entwicklung und Betrieb allen zur Verfügung – inklusive aller Bibliotheken, Skripte, Werkzeuge, Artefakte, Tests und Konfigurationsdateien.
Außerdem erzeugen sie gewohnheitsmäßig in allen Bereichen Telemetrie-Daten über Ereignisse und stellen sie visuell aufbereitet allen bereit, um Probleme zu analysieren und Frühwarnsysteme zu implementieren. Und nicht zuletzt haben sie eine Lernkultur entwickelt, die das Lernen aus dem Scheitern zu einer Selbstverständlichkeit erklärt.
Diese Kombination aus hoch entwickelter Automatisierung, Analysewerkzeugen, lern­orientierten Prozessen und Systemsteuerungen sowie ganz vielen Selbstverständlichkeiten führt dazu, dass es den Unternehmen gelingt, die Erosionsprozesse schrittweise einzudämmen und zu einem Ort zu werden, an dem ingenieursmäßig gedacht wird. Ingenieursmäßiges Denken beinhaltet die Geschäftsperspek­tive, stellt jedoch die Sache über alles. Sie sucht individuell und im Team nach Erkenntnis, statt nach Macht und Bequemlichkeit.
Damit ein Wandel zu einer solchen selbstverständlichen Sachorientierung gelingt, braucht es einen führungsstarken CTO, der eine Balance wahrt zwischen seinem persönlichen Interesse an hoher Engineering-Qualität und pragmatischer Erfolgsorientierung. Gelingt der Wandel aber, so wird aus dem gestressten Jongleur-CTO der Zirkusdirektor im Hintergrund, der mit Genuss und vielleicht auch leichtem Bedauern erlebt, dass er sich selber überflüssig gemacht hat.
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