Low Code/No Code

Demokratisierung der Entwicklung

von - 16.09.2021
Foto: Shutterstock/ Peshkova
Wie Unternehmen mit Low-Code-/No-Code-Plattformen die Prozessautomatisierung durch Laien vorantreiben können.

Software-Entwickler sind gefragt. Die Meta-Jobsuchmaschine Jobrobot listete Ende Mai mehr als 45.000 offene Stellen für Developer auf. Laut der Bundesagentur für Arbeit liegt die Arbeitslosenquote mit 2,2 Prozent nur bei rund einem Drittel des Bundesdurchschnitts. Unternehmen brauchen im Mittel mehr als sechs Monate, um eine Entwicklerstelle zu besetzen. „Professionelle Entwickler sind Mangelware geworden“, berichtet Tino Fliege, Solution Architect bei OutSystems. Einer OutSystems-Studie aus dem vergangenen Jahr zufolge finden es nur 11 Prozent der Umfrageteilnehmer in der DACH-Region „einfach“ oder „sehr einfach“, Entwickler zu finden. Vor allem in Bereichen wie Künstliche Intelligenz, Machine Learning und Cybersecurity tun sich Unternehmen bei der Suche nach entsprechenden Spezialisten schwer (siehe Grafik auf Seite ?).
Der steigende Developer-Bedarf ist kein Wunder in einer Welt in der „jedes Unternehmen zum Software-Unternehmen wird“, wie der US-Informatiker Watts S. Humphrey bereits vor mehreren Jahrzehnten erkannte. „Egal von welchem Unternehmen oder welcher Organisation wir sprechen, überall macht sich der Fachkräftemangel im Bereich Software-Entwicklung zunehmend bemerkbar“, bestätigt Hans de Visser, VP Product Management bei der Siemens­tochter Mendix, diese Entwicklung.
Tino Fliege
Solution Architect bei OutSystems
Foto: OutSystemes
Professionelle Entwickler sind Mangelware geworden.
Unternehmen versuchen daher vermehrt, Anwender aus den Fachbereichen als „Citizen Developer“ in die Software-Entwicklung zu integrieren. Unterstützt werden sie dabei von sogenannten Low-Code-/No-Code-Plattformen, die – wie der Name schon andeutet – eine Programmierung mit wenig oder gar keinem Code ermöglichen. Einer von Mendix in Auftrag gegebenen Umfrage zufolge arbeiten bereits 300.000 Angestellte in der deutschen Industrie mit Low-Code-Technologien. Der Low-Code-Spezialist schätzt das Potenzial an Citizen Developern in deutschen Industrie­unternehmen auf 1,8 Millionen Beschäftigte.
Ein weiterer Grund für die zunehmende Nachfrage nach Fachentwicklern ist laut Annette Maier, Area Vice President Central & Eastern Europe bei UiPath, der Trend zur Automatisierung: „Unternehmen, die den ‚Automation first‘-Ansatz, sprich eine ganzheitliche Automatisierung umsetzen wollen, müssen sich mit abteilungsbezogener sowie individueller Automatisierung befassen.“ Dazu sei es notwendig, die Mitarbeiter aus den Fachabteilungen einzubinden: „Sie kennen ihre repetitiven Aufgaben, die sich automatisieren lassen, und entdecken so Automatisierungspotenziale, die eventuell von der IT-Abteilung unentdeckt geblieben wären.“
Annette Maier
Area Vice President Central & Eastern Europe bei UiPath
Foto: UiPath
Das Rückgrat aller Citizen-Developer-Initiativen ist das Thema Governance.

Leute wie du und ich

Mit der Citizen-Development-Bewegung wird ein Typ Anwender salonfähig, der bisher von IT-Abteilungen, Sicherheitsverantwortlichen und professionellen Entwicklern eher mit Skepsis gesehen wurde: Mitarbeiter, die bei IT-Problemen zur Selbsthilfe greifen. „Die Welt ist voll von Citizen-Developer-Lösungen wie beispielsweise Spreadsheets mit Makros, Lotus Notes oder Sharepoint-Apps, die auf lokalen Systemen und Servern ohne Sichtbarkeit für die Unternehmens-IT laufen“, sagt Mendix-Manager de Visser. „Citizen Developer sehen Digitalisierungspotenzial in ihrem Arbeitsalltag und schaffen sich Lösungen einfach selbst“, ergänzt Sven Zuschlag, Gründer, Vorstand und CEO des Unternehmens smapOne, das sich als „das digitale Spielzimmer für erfolgreiche Unternehmen“ bezeichnet. „Ein Citizen Developer bist du und ich und wirklich jeder!“
Zu viel Citizen-Developer-Freiheit kann allerdings auch zu Problemen führen, geben die von uns befragten Experten zu bedenken. „Wie bei allen anderen Lösungen auch, die ungeprüft und nicht zugelassen in der IT-Infrastruktur eines Unternehmens verwendet werden, können selbst entwickelte Apps Sicherheitsrisiken darstellen, ein fehlerhaftes Verhalten an den Tag legen oder zu Störungen im Betriebsablauf führen“, warnt beispielsweise OutSystems-Manager Fliege.
Sven Zuschlag
Gründer und CEO von smapOne
Foto: UiPath
Citizen Developer sehen Digitalisierungspotenzial in ihrem Arbeitsalltag und schaffen sich Lösungen einfach selbst.
Und Florian Weber, Principal Solutions Consultant bei Pegasystems, sieht noch weitere mögliche Schwierigkeiten: „Es kann durch Kopien zu uneinheitlichen Datenbeständen kommen oder es treten Performance-Probleme in Backend-Systemen auf, weil Anwendungen unkontrolliert auf Funktionen und Daten zugreifen. Auch bei der Veränderung bereits im Produktiveinsatz befindlicher Applikationen entstehen schnell Inkonsistenzen, wenn Änderungen unbedacht vorgenommen werden.“ Citizen-Development-Projekte sollten deswegen immer übergreifend gesteuert werden, rät Annette Maier von UiPath: „Das Rückgrat aller Citizen-Developer-Initiativen ist das Thema Governance“, erklärt sie. „Der Zugriff auf Daten für und von Citizen Developern muss daher entsprechend geregelt sein.“ Zudem sollte jede Automatisierung, die von Citizen Developern erstellt wurde, überprüft werden, bevor diese livegeschaltet wird, fordert die Managerin.
Plattformen für die Entwicklung durch Citizen Developer sollten daher Möglichkeiten zur Definition und Überwachung von Compliance- und Sicherheitsrichtlinien sowie zur Qualitätssicherung bieten. „Wer eine Low-Code-Lösung auf die Art und Weise nutzt, wie sie vom Hersteller intendiert ist, und sich beim Einsatz an die Compliance-Richt­linien seines Unternehmens hält, hat aus meiner Sicht kaum Risiken durch Entwicklungen von Citizen Developern zu befürchten“, sagt Tino Fliege von OutSystems.
Hans de Visser,
VP Product Management bei Mendix
Foto: Mendix
Die Welt ist voll von Citizen-Developer-Lösungen.

Was Citizen Developer können – und was nicht

Der Einsatz von Citizen Developern ist vor allem dort sinnvoll, wo häufig auftretende repetitive Prozesse automatisiert werden sollen. „Mit den heute verfügbaren Low-Code- und No-Code-Tools können Citizen Developer sehr gut Applikationen zur strukturierten Datenerhebung und Zusammenarbeit erstellen, zum Beispiel grafische Anwendungen auf Basis einer Datenbank“, erklärt Florian Weber von Pega­systems. „Ebenso gut digitalisieren sie Workflows und Freigabeprozesse, automatisieren Geschäftsregeln und generieren Dokumente, etwa für Reports. Dabei gestalten sie die nötigen Datenmodelle, Formulare, Prozessabläufe und Vorlagen selbst und verwalten die dazugehörige Logik in Form von visuellen Regeln.“

Low-Code-/No-Code-Plattformen für Citizen Development (Auswahl)

Anbieter

Plattform

Leistungsumfang

Appollo Systems

www.appollo-systems.com/product

Digital Innovation Platform

Kollaborative Entwicklungsplattform für die unternehmens- und plattformübergreifende Digitalisierung; Integration von Konzeption, Businessanalyse, Automatisierung und Tests; Einsatz von Open-Source-Komponenten und Standards für Prozessmodellierung, Case-Management, Geschäftsregeln und Datenbankintegration

Mendix

www.mendix.com/de/plattform

Application

Platform as a

Service

Erstellung und Wiederverwendung von Multi-Channel-Apps; WYSIWYG-Modellierung, Plug-and-Play-Widgets und Starter-Templates; vorgefertigte Konnektoren für SAP, IBM, Salesforce und andere Systeme; Automatisierung von CI/CD (Continuous Integration/Continuous Deployment), cloudnative Architektur, Sicherstellen von Compliance- und Sicherheitsvorgaben

Microsoft

https://powerplatform.microsoft.com/de-de

Power Platform

Tools für Business-Intelligence-Analysen (Power BI), App-Entwicklung (Power Apps), Prozessautomatisierung (Power Automate) und KI-gestützte Chatbots (Power Virtual Agents); Integration in Microsoft 365, Dynamics 365 sowie Drittanbieter mit über 350 Konnektoren

OutSystems

www.outsystems.com/de-de/platform

OutSystems- Plattform

Visuelle, modellgesteuerte Entwicklungsumgebung mit KI-Unterstützung; einfache Bereitstellung und Verwaltung von Apps; integrierte Sicherheits- und Skalierungsfunktionen zur Entwicklung und Bereitstellung auch geschäftskritischer Applikationen; browserbasierte

No-Code-Tools für den einfachen Einstieg

Pegasystems

www.pega.com/de/products/platform/low-code-app-development

Pega App Studio

Vorgefertigte App-Templates; intelligente Tools für Automatisierung und Workflows; Collaboration-Funktionen für die Zusammenarbeit; Unterstützung von DevOps und Continuous Integration

Simplifier

https://simplifier.io/simplifier-plattform/darum-simplifier

Simplifier-Plattform

Einfache Integration vorhandener Backend-Systeme und Datenquellen; Unterstützung von SAP Fiori; Erstellung von Open-Source-Apps ohne Programmierkenntnisse; geräte- und betriebssystemunabhängige Bereitstellung von Apps

smapOne

www.smapone.com/tour

App-Baukasten

App-Erstellung durch Drag and Drop; plattformübergreifende Unterstützung (iOS, Android, Windows); Erfassung und Strukturierung von Daten; App-Verwaltung und Integration von Azure AD; vorgefertigte Schnittstellen für ERP-, CRM- und andere Systeme

UiPath

www.uipath.com/de/product/studiox

StudioX

Vorgefertigte Vorlagen und Szenarien für die schnelle App-Erstellung per Drag and Drop; native Integration in Microsoft Office, Google Mail und Microsoft Outlook; spezielle Unterstützung für SAP; Ausführen und Teilen von Automatisierungen über UiPath Assistant; Überwachung von Qualität und Konformität durch Center of Excellence

Experten aus den Fachbereichen können aber auch bei komplexeren Aufgaben hilfreich sein und die professionellen Entwickler mit ihrem Domänenwissen unterstützen, ergänzt Solution Architect Tino Fliege: „Diese wissen selbst am besten darüber Bescheid, wie die spätere Anwendung inhaltlich funktionieren muss, welche Aspekte berücksichtigt werden müssen und unter welchen Bedingungen die Anwendung wie reagieren muss.“
Was Low-Code-/No-Code-Plattformen bieten sollten
Bei der Wahl einer Citizen-Development-Umgebung sollten Sie auf folgende Leistungsmerkmale achten:
  • Vorgefertigte Module: Die Lösung sollte Plug-ins, Schnittstellen und Kernkomponenten für die wichtigsten Funktionen wie das Daten-, Rechnungs- und Kundenmanagement bereits mitbringen, die sich einfach in die Apps der Anwender integrieren lassen.
  • Visuelle Modellierung per Drag and Drop: Lassen sich Funktionen über eine grafische Benutzeroberfläche zusammenstellen, benötigt der Nutzer wenig oder gar keine Codiererfahrung, um funktionsfähige Applikationen zu generieren.
  • Wiederverwendbarkeit von Modulen: Citizen Development spielt erst dann seine Stärke aus, wenn Einzellösungen skaliert und wiederverwendet werden können. Anwender sollten deshalb selbst kreierte Module anderen über die Plattform zur Verfügung stellen können.
  • Plattformübergreifende Nutzungsmöglichkeiten: Je mehr Betriebssysteme und Endgerätetypen eine Lösung unterstützt, desto einfacher ist die App-Erstellung für den Mitarbeiter und desto breiter lässt sie sich einsetzen.
  • Skalierbarkeit: Die Nutzung selbst erstellter Apps sollte sich ohne Probleme auf neue Nutzer und größere Anwendergruppen erweitern lassen.
  • Rollenbasiertes Nutzerkonzept: Vor allem wenn die Lösung sowohl von Citizen Developern als auch professionellen Entwicklern benutzt wird, ist eine detaillierte Rechtevergabe unumgänglich. So lässt sich verhindern, dass Anwender Zugriff auf Funktionen oder Module erhalten, für die sie nicht ausreichend geschult sind.
  • Überwachung von Sicherheits- und Compliance-Richtlinien: Die Plattform sollte die Definition von Richtlinien ermöglichen und beispielsweise den Zugriff auf besonders geschützte Daten reglementieren.
  • Reporting und Monitoring: Low-Code-/No-Code-Systeme sollten die Ergebnisse der App-Entwicklung für Anwender und Entscheider so transparent wie möglich machen: Wie leistungsfähig und effizient ist die erstellte Lösung? Gibt es Sicherheitsprobleme oder Konflikte mit anderen Anwendungen? Treten im Ablauf Fehler oder Verzögerungen auf, die behoben beziehungsweise optimiert werden sollten? Diese Fragen sollten möglichst einfach visualisiert über ein Dashboard beantwortet werden können.
Wenn es allerdings komplizierter wird und Backend-Systeme oder Lösungen Dritter eingebunden werden müssen, dann kommen Citizen Developer zumindest alleine nicht mehr weiter.
„An dieser Stelle sollten aus meiner Sicht immer professionelle Entwickler unterstützen oder übernehmen“, empfiehlt Fliege. „Auf keinen Fall eignen sich geschäftskritische und/oder komplexe Anwendungen mit hohen Sicherheitsanforderungen“, zieht Adelhard Türling, Geschäftsführer des Microsoft-Spezialisten CRM Partners eine klare Grenze. „Zur Unterstützung der IT und um Zeit zu gewinnen, können Citizen Developer jedoch die Prototypen für solche Anwendungen erstellen, deren Weiterentwicklung anschließend die IT übernimmt.“
So finden Sie den richtigen Citizen Developer
Diese Fragen sollten Sie bei der Wahl geeigneter Mitarbeiter stellen:
  • Haben Sie ein tiefes Verständnis von Prozessen und Geschäftszielen?
  • Agieren Sie selbstständig und proaktiv?
  • Sind Sie lernbegierig?
  • Macht es Ihnen Spaß, andere als Mentor zu unterstützen?
  • Sind Sie technisch affin und sicher im Umgang mit digitalen Tools?
  • Haben Sie die eigene Produktivität bereits selbst optimiert, zum Beispiel mittels Tabellenverarbeitung?
  • Haben Sie bereits eigenständig eine Webseite oder andere Online-Tools erstellt?
Citizen Developer sind vor allem dort gefragt, wo ein großer Bedarf an relativ einfach zu erstellenden Applikationen besteht.
(Quelle: smapOne (nach Gartner 2019) )

Die richtigen Leute finden

Damit ein Citizen Developer wirklich produktiv arbeiten und vernünftige Ergebnisse erzielen kann, ist laut Tino Fliege von OutSystems eine generelle Technikaffinität sowie ein grundlegendes Verständnis dafür erforderlich, wie prozedurale Software-Entwicklung funktioniert und wie Daten strukturiert und abgespeichert werden können. „Das bedeutet nicht, dass ein Mitarbeiter bereits Erfahrung in konkreten Programmiersprachen gesammelt haben muss“, betont der Solution Architect. „Vielmehr meine ich damit ein Verständnis, welcher Logik Software-Entwicklung folgt – wie Varia­blen, Bedingungen oder Schleifen zum Einsatz kommen.“
Recruiting-Heraus­forderungen: Vor allem Entwickler mit Spezialkennt­nissen in KI oder Security sind am Markt kaum mehr zu finden.

(Quelle: OutSystems )
Für Adelhard Türling von CRM Partners spielen aber auch soziale Kompetenzen eine Rolle: „Grundlegend ist die Fähigkeit, die Bedürfnisse und Herausforderungen auch anderer Abteilungen zu erkennen und zu verstehen“, betont der Geschäftsführer. „Am besten eignen sich dabei kreative, engagierte und neugierige Mitarbeiter, die gerne Aufgaben übernehmen, die über ihre eigentliche Arbeit hi­nausgehen.“
Adelhard Türling,
Geschäftsführer CRM Partners
Foto: aXon GmbH
Zunächst sollten künftige Citizen Developer eine umfassende Nutzerschulung für die entsprechende Low-Code-Plattform erhalten.
Geeignete Kandidaten zeichnen sich laut Pegasystems-Consultant Weber zudem durch besonders hohe Einsatzbereitschaft aus: „Citizen Developer arbeiten häufig aus eigenem Antrieb heraus. Sie bekommen eher selten die Aufgabe übertragen, eine App zu entwickeln, sondern schlagen dies ihrem Management aus eigener Initiative vor und sind zu diesem Zeitpunkt oft schon sehr gut informiert.“

Chancen für Bürgerentwickler

Das Interesse der Mitarbeiter an neuen digitalen Fähigkeiten ist groß. Laut der bereits erwähnten Mendix-Umfrage wollen 76 Prozent der deutschen Industrieangestellten mit der IT zusammenarbeiten und Software-Skills erlernen. Dafür benötigt man nach Ansicht von Sven Zuschlag im Idealfall gar kein Training.„Der No-Code-Ansatz ist so einfach und intuitiv wie Lego“, sagt der smapOne-Gründer. „Dafür braucht man erst mal keine Anleitung, sondern legt direkt los.“ Zeit und Vertrauen in die Potenziale der Mitarbeiter seien viel wichtiger als formelle Schulungen. „Sie müssen wissen, dass sie probieren, scheitern, lernen, verbessern und neu versuchen dürfen und sogar sollen.“
Daniel Oostdam
Consulting Manager bei der ISG Germany GmbH
Foto: ISG
Selbst wenn eine Lösung im Einzelprozess nur fünf Minuten spart, kann das in großen Unternehmen, wo sie Hunderte oder Tausende Male eingesetzt werden kann, zu erheblichen Einsparungen führen.
„Jeder kann zum Teamerfolg beitragen“
Citizen Development hat es als Buzzword in letzter Zeit zu einiger Bekanntheit gebracht. Oft hat man allerdings den Eindruck, dass in den Diskussionen über Sinn und Unsinn dieses Konzepts nicht jedem klar ist, was damit gemeint ist und wo seine Stärken und seine Grenzen liegen.
Daniel Oostdam, Consulting Manager beim IT-Marktforschungs- und -Beratungshaus ISG Germany, klärt auf und erläutert im Gespräch mit com! professional, wie sich Citizen Development erfolgreich in die Unternehmenskultur integrieren lässt.
com! professional: Herr Oostdam, es wird viel über Citizen Development geschrieben und diskutiert – was ist das überhaupt?
Daniel Oostdam: ISG versteht darunter Mitarbeiter aus den Fachbereichen, die sich mit kleinen Lösungen selbst ihren Arbeitsalltag erleichtern, etwa indem sie ein VBA-Skript für eine Excel-Tabelle schreiben.
com! professional: Das ist ja nichts Neues. Warum wird das Thema plötzlich so gehypt?
Oostdam: In den vergangenen Jahren sind vermehrt sogenannte Low-Code-/No Code-Plattformen auf den Markt gekommen, die eine Prozess­automatisierung mit wenig oder sogar ganz ohne Programmierung ermöglichen. Das erleichtert den Fachanwendern den Einstieg in die Entwicklung. Hinzu kommen die Überlastung und der Fachkräftemangel in den IT-Abteilungen. Fachbereiche müssen häufig Wochen oder gar Monate warten, bis sie eine Lösung von den professionellen Entwicklern erhalten. All das zusammen hat den Citizen-Development-Trend ge­fördert.
com! professional: In welchen Bereichen können Citizen Developer eine Rolle spielen?
Oostdam: Citizen Development ist überall dort sinnvoll, wo viele Prozesse in den Fachbereichen noch manuell gesteuert werden. Die Mitarbeiter kennen die Prozesse am besten, sie wissen, was sie stört und was man besser machen könnte.
com! professional: Kann jeder Mitarbeiter ein Citizen Developer werden oder sind spezielle Vorkenntnisse notwendig?
Oostdam: Es gibt Low-Code-/No-Code-Plattformen, die theoretisch jeder bedienen kann. In der Praxis braucht es aber doch Mitarbeiter mit einem gewissen IT-Know-how, die verstehen, wie die Prozesse technisch funktionieren. Man muss aber keine Programmiersprache beherrschen, um zumindest einfache Automatisierungen zu erstellen. Bei komplexeren Anforderungen benötigt man aber auch in den Low-Code-/No-Code-Plattformen einen Entwicklerhintergrund.
com! professional: Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Citizen Developern und professionellen Entwicklern? Schauen die „Profis“ auf ihre Kollegen herab oder werden die Mitarbeiter aus den Fachabteilungen als gleichwertig akzeptiert?
Oostdam: Es kommt schon vor, dass professionelle Entwickler Citizen Developer nicht ernst nehmen. Ich sehe bei meinen Kunden jedoch zunehmend die Bereitschaft zur Zusammenarbeit – schon allein deshalb, weil die IT-Teams gar nicht die Zeit und das Personal haben, sich um alles selbst zu kümmern.
com! professional: Lässt sich die Zusammenarbeit von Citizen Developern und professionellen Entwicklern durch agile Konzepte fördern, zum Beispiel indem man sie in einem Scrum-Team zusammenbringt?
Oostdam: Das könnte grundsätzlich funktionieren, ich habe das allerdings bei unseren Kunden noch nicht beobachtet. Wir sehen eher, dass Unternehmen ein Expert-Center für Citizen Development aufbauen, an das sich Mitarbeiter aus den Fachbereichen wenden können, wenn sie mit ihren Entwicklungen nicht weiterkommen. Diese Form der Zusammenarbeit gibt es, und ich halte das auch für einen guten Weg.
com! professional: Hat ein solches Expert-Center weitere Aufgaben über den bloßen Support der Citizen Developer hinaus?
Oostdam: Ja, es ist ein Steuerungs- und Koordinierungszentrum. Die Mitarbeiter dort sind die zentrale Anlaufstelle, wenn es um die Weiterbildung der Citizen Developer geht. Sie haben aber auch ein Auge da­rauf, dass Wildwuchs, Schatten-IT und unnötige Doppel- oder Dreifachentwicklungen für ein und dasselbe Problem vermieden werden.
com! professional: Das klingt nach viel Arbeit. Wie viele Experten müssen Unternehmen dafür abstellen?
Oostdam: Dazu braucht man in der Regel kein großes Team von 20 oder 30 Leuten. Einige Mitarbeiter sind meist ausreichend. Die sollten dann allerdings richtig viel Ahnung von der eingesetzten Low-Code-/No-Code-Plattform haben.
com! professional: Wie muss eine solche Plattform beschaffen sein, um diese Teams optimal zu unterstützen?
Oostdam: Es sollten sich Sicherheits- und Compliance-Richtlinien festlegen lassen, um den Zugriff auf bestimmte Ressourcen automatisiert und rollenbasiert begrenzen zu können. Die Mitarbeiter im Expert-Center sollten aber auch die Möglichkeit haben, bei Bedarf einem Citizen Developer individuell zusätzliche Rechte zu geben, wenn er sie für ein bestimmtes Projekt benötigt.
com! professional: Wie lässt sich überprüfen, ob sich die Investition in Citizen Development gelohnt hat? Stellen die Plattformen dafür Messzahlen zur Verfügung?
Oostdam: Wenn es um einen einzelnen Prozess geht, ist es schwierig, einen Return on Invest zu messen. Bei häufiger Nutzung lassen sich dagegen durchaus Kennzahlen definieren, die eine RoI-Abschätzung ermöglichen. Selbst wenn eine Lösung im Einzelprozess nur fünf Minuten spart, kann das in großen Unternehmen, wo sie Hunderte oder Tausende Male eingesetzt werden kann, zu erheblichen Einsparungen führen. Die Plattformen sollten daher einen Überblick darüber bieten, wer welche Tools nutzt und wie oft die entwickelten Lösungen verwendet werden. Es ist aber sicher einfacher, einen Business-Case für eine zentral gesteuerte und aufgesetzte Entwicklung zu formulieren, als für kleine, weit verzweigte Initiativen in den Fachbereichen. Das bleibt eine Schwachstelle von Citizen Development.
com! professional: Welche Rolle spielen weiche Faktoren wie Mitarbeiterzufriedenheit und Motivation für die Kosten-Nutzenbewertung von Citizen-Development-Initiativen?
Oostdam: Das sind auf jeden Fall wichtige Aspekte. Citizen Development ermächtigt Mitarbeiter, sich von ihren Routineaufgaben zu lösen, ihr eigenes Arbeitsumfeld aktiv zu verbessern und sich neue Kompetenzen anzueignen. Manche Citizen Developer haben so viel Spaß an der neuen Aufgabe, dass sie sich sogar zu professionellen Entwicklern weiterbilden.
com! professional: Bedeutet das nicht auch zusätzlichen Stress? Schließlich müssen die Mitarbeiter ihre Citizen-Development-Projekte neben ihrer normalen Arbeit erledigen.
Oostdam: Man sollte den Mitarbeitern einen entsprechenden Freiraum einräumen, etwa einige Stunden oder einen halben Tag in der Woche, der explizit für solche Projekte reserviert ist. So lassen sich Zielkonflikte mit den Hauptaufgaben des Beschäftigten reduzieren.
com! professional: Was ist mit den Mitarbeitern, die nicht so viel Spaß am Citizen Development haben? Setzt man sie mit solchen Konzepten nicht gehörig unter Druck?
Oostdam: Es müssen ja nicht alle Kollegen Lösungen entwickeln, um Teil einer Citizen-Development-Initiative zu sein. Man kann beispielsweise konkrete Verbesserungsvorschläge machen, diese mit den IT-affineren Kollegen im Fachbereich besprechen und gemeinsam eine Lösung erarbeiten. Jeder kann zum Teamerfolg beitragen.

Daniel Oostdam
Consulting Manager bei der ISG Germany GmbH
Foto: ISG
Citizen Development ermächtigt Mitarbeiter, sich von ihren Routineaufgaben zu lösen.
Andere Experten empfehlen ein strukturierteres Vorgehen: „Zunächst sollten zukünftige Citizen Developer eine umfassende Nutzerschulung für die entsprechende Low-Code-Plattform erhalten“, sagt Adelhard Türling von CRM Partners. „Dazu gehört auch der Umgang mit den diversen Low-Code-Werkzeugen.“ Auch bei OutSystems geht es nicht ohne Einführung: „Unser sogenanntes Guided Training sollte (…) auf jeden Fall absolviert werden“, sagt Solution Architect Tino Fliege. Über diese Schulung erweitern Anwender im Lauf mehrerer Wochen Schritt für Schritt ihre Fähigkeiten. „Zu Beginn ist das vielleicht noch ein kleines Tool wie eine interne To-do-Liste oder eine App, die genutzt werden kann, um Urlaubsanträge zu genehmigen“, erläutert Fliege. Solche Anwendungen ließen sich bereits nach zwei Trainingswochen problemlos erstellen. „Um hingegen eine geschäftskritische Anwendung zu schreiben, ist eine deutlich umfassendere Einarbeitungszeit erforderlich.“

Fazit & Ausblick

Mitarbeiter greifen bei Computerproblemen zur Selbsthilfe. Na und?, könnte man fragen – das tun sie, seit uns PCs die tägliche Arbeit erschweren. Das wirklich Neue an Citizen Development ist deshalb nicht das Dass, sondern das Wie. Low-Code-/No-Code-Plattformen stellen heute wesentlich bessere, umfangreichere und leichter zu bedienende Programmiermöglichkeiten zur Verfügung, als dies mit VBA oder Shell-Skripten bislang der Fall war.
Darüber hinaus lenken sie die Kreativität der Fachanwender in geordnete Bahnen und reduzieren das Risiko von Sicherheitsproblemen oder Compliance-Verstößen. Vor allem aber machen sie die Lösungen der Laien anderen zugänglich. Einmal gefundene Antworten auf immer wiederkehrende Fragen lassen sich unternehmensweit einsetzen und über den einzelnen Anwender oder die Fachabteilung hinaus skalieren.
Wenn dann die „professionellen“ Entwickler einen Teil ihres Standesdünkels aufgeben und mit den Anwendern aus den Fachabteilungen auf Augenhöhe zusammenarbeiten, kann das Konzept des Citizen Developments durchaus einen wesentlichen Beitrag zur digitalen Transformation leisten.
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