Digitalisierungsstrategie für Deutschland

Wenn die digitale Aufholjagd stockt

von - 09.07.2023
Foto: Shutterstock / Coffeemill
Die Corona-Pandemie hat hierzulande zu einem Digitalisierungsschub geführt. Doch aktuell stagniert die Entwicklung. Die Bundesregierung versucht, mit der Digitalstrategie Deutschland gegenzusteuern und das digitale Tempo zu erhöhen.
Das Online-Portal für die Terminvereinbarung zum Abholen des neuen Personalausweises funktioniert nicht. Anträge für Behörden lassen sich zwar online ausfüllen, müssen aber trotzdem ausgedruckt und per Post abgeschickt werden – solche Tücken und Schwächen der digitalen Verwaltung haben viele Bürger schon am eigenen Leib verspürt.
Dabei trat 2017 das Online-Zugangsgesetz, kurz OZG, mit dem Ziel in Kraft, binnen fünf Jahren das Gros der Verwaltungsleistungen digital abwickeln zu können, die man bis dato persönlich oder auf Papier beantragen musste, sei es Personalausweis, Führerschein, Fahrzeuganmeldung oder Kirchenaustritt.
Doch Ende 2022 waren von ursprünglich 575 geplanten digitalen Verwaltungsleistungen nur 114 Services umgesetzt, und das nicht einmal flächendeckend. Auch diverse aktuelle Studien und Indizes zeichnen ein eher tristes Bild vom Stand der Digitalisierung in Deutschland, und das sowohl für den öffentlichen Sektor genauso wie auch in der Wirtschaft.

Beschämende Stagnation

Ein Beispiel ist der Digitalisierungsindex 2022 zur Digitalisierung der Wirtschaft in Deutschland, den das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und IW Consult im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) erheben. Das zentrale Ergebnis lautet: Der Digitalisierungsindex stieg von 107,9 auf 108,9 Punkte, sprich die Wirtschaft in Deutschland ist im Jahr 2022 im Vergleich zum Jahr 2021 nur minimal digitaler geworden. Zum Vergleich: Von 2020 auf 2021 legte der Index immerhin noch um 8 Punkte zu.
Vorreiter der Digitalisierung sind wie im Vorjahr große Unternehmen mit 250 und mehr Beschäftigten, die ITK-Branche bei den Branchengruppen sowie regional die Bundeslandgruppe Süd mit Baden-Württemberg und Bayern. Den meisten Aufholbedarf haben kleine Unternehmen mit bis zu 49 Mitarbeitern, das Sonstige Produzierende Gewerbe (Wasser- und Energieversorgung, Bau und Entsorgung) sowie die geringverdichteten ländlichen Räume. Regional liegt die Bundeslandgruppe Nord (Bremen, Hamburg, Niedersachen, Schleswig-Holstein) hinten.
Entwicklung des Digitalisierungs-Index in Deutschland
(Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft )
Interessant: Den stärksten absoluten Zuwachs im Vergleich zum Jahr 2021 verzeichnet die unternehmensexterne Kategorie Gesellschaft. Sie bildet ab, wie digitalaffin die Bevölkerung ist und inwiefern sie digitale Produkte und Dienstleistungen nutzt. Die Gesellschaft bildet damit an sich einen entscheidenden Treiber des digitalen Fortschritts. Der Wert stieg von 113,6 auf 122,5 Punkte.

In Europa nur Mittelmass

Europaweit liegt Deutschland nur im Mittelfeld. Die Europäische Kommission veröffentlicht jährlich den Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI), der die Fortschritte der Mitgliedstaaten in den fünf wesentlichen Bereichen Konnektivität, digitale Kompetenzen, Internetnutzung durch Privatpersonen, Integration digitaler Technik durch Unternehmen und digitale öffentliche Dienste verfolgt. Deutschland lag hier 2022 mit einem Indexwert von 52,9  nur im Mittelfeld unter den EU-Ländern, genauer gesagt auf Platz 13. Führend sind die skandinavischen Länder Finnland und Dänemark.
Lynn-Kristin Thorenz
Associate Vice President Custom Solutions Europe North bei IDC
Foto: IDC
„Wir müssen aufpassen, dass wir nicht den Anschluss verpassen. Die globale Wirtschaft
digitalisiert sich in schnellem Tempo, insbesondere in den USA und in Asien. Die Welt um uns herum wartet nicht darauf, dass wir irgendwann bereit sind.“
Ernüchternd fällt auch das Fazit des Digitalreports 2023 des European Center for Digital Competitiveness aus: „Die großen Erwartungen an einen digitalen Neuanfang durch die Ampelregierung haben sich nicht erfüllt. Der Rückstand im Bereich der Digitalisierung scheint noch ausgeprägter als im Vorjahr und zum ersten Mal blickt eine Mehrheit der Befragten mit Pessimismus in die digitale Zukunft des Landes. Es fehlen konkrete Ergebnisse.“
Auch Lynn-Kristin Thorenz, Associate Vice President Custom Solutions Europe North bei IDC, ist der Meinung, dass Deutschland den Schwung aus dem Digitalisierungsschub infolge der Corona-Pandemie wieder verloren habe. Als wichtigste Ursache sieht sie die aktuelle Lage mit Themen wie dem Krieg in der Ukraine, Banken-Krise, Inflation oder steigenden Zinsen.
„Die damit verbundenen Unsicherheiten und auch ein enormer Kostendruck haben dazu beigetragen, dass die Digitalisierung hierzulande aktuell wieder etwas langsamer verläuft oder gar stagniert. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht den Anschluss verpassen. Die globale Wirtschaft digitalisiert sich in schnellem Tempo, insbesondere in den USA und in Asien. Die Welt um uns herum wartet nicht darauf, dass wir irgendwann bereit sind“, warnt Lynn Thorenz eindringlich. Und fordert: „Wir müssen digital aktiver werden.“
Pessimismus in Sachen Digitalisierung
(Quelle: Digitalreport 2023 des European Center for Digital Competitiveness )
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