Unternehmenskultur

Von den Kleinen lernen

Quelle: Foto: Shutterstock / LDprod
29.10.2021
Agilität und flache Hierarchien – viele angestammte Unternehmen wären gerne mehr wie ein Start-up.

Ich wär’ so gern wie Du“: Was Schlagerbarde Bernhard Brink bereits Ende der 1970er-Jahre besang, wünschen sich heute viele traditionelle und nicht selten mindestens genauso alte Unternehmen – sie wären gern so innovativ und agil wie ein Start-up.
„Zielstrebigkeit bei gleichzeitiger Flexibilität und Geschwindigkeit vor Perfektion sind zentrale Merkmale der Can-do- und Fail-fast-Kultur erfolgreicher Start-ups“, fasst Holger Knöpke zusammen. Er ist Leiter Digitale Strategie & Innovationsmanagement bei der Deutschen Bahn sowie Leiter der DB Mindbox, dem Start-up-Programm der Bahn.
Wenn es einem alteingesessenen Firmen-Dickschiff gelingt, eine solche Kultur auch für sich nutzbar zu machen, dann erzeugt das einen Innovationsschub im eigenen Unternehmen und fördert Change-Prozesse. Und gerade diese Change-Prozesse sind wichtig. Es reicht nicht aus, auf einer Powerpoint-Folie festzuhalten, dass man als Unternehmen innovativer werden möchte. Das klappt nur, wenn sich auch die Kultur im Unternehmen einer radikalen Veränderung unterzieht. Denn zum Gewinner der Digitalisierung wird nur, wer sich verändert. Und dafür braucht es etwas Mut, den richtigen Zeitpunkt und die passende Strategie. Letztere ist dabei nicht unbedingt zentral. Holger Knöpke zitiert in diesem Zusammenhang Peter Drucker, der als
einer der Pioniere der modernen Managementlehre gilt: „Culture eats strategy for breakfast“ – die richtige Unternehmenskultur kann wichtiger sein als eine ausgefeilte Strategie.
Angestammte Unternehmen kommen also über kurz oder lang nicht drumherum, ihre teils angestaubten Vorstellungen über den Haufen zu werfen und sich mit einer Portion Courage auf Neues einzulassen. „Viele von ihnen sind auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, Dinge anders zu machen – und eben auch die Vorteile vom Arbeiten in Start-ups in den Unternehmen zu verankern“, berichtet Roman Ritt­weger, Gründer und CEO des Krankenversicherungs-Start-ups Ottonova. Aber: „Hier muss unbedingt darauf geachtet werden, dass die Integration zwischen der alten Unternehmenswelt und der neuen Start-up-Kultur sauber gelingt. Das ist oftmals die größte Herausforderung.“
Eine ähnliche Auffassung vertritt Mike Gregor, Geschäftsführer bei SolidLine. Das Unternehmen bietet unter anderem Lösungen für die Produktentwicklung und die 3D-Fertigung an. „Es geht nicht mehr anders“, so seine klare Meinung. Jedes Unternehmen, das am Markt bestehen will, müsse gewisse Veränderungen und Automatismen zulassen. „Das Ziel sollte sein, ein Teil des Wandels zu werden und proaktiv die Zukunft mitzugestalten und oder sogar zu beeinflussen.“ Dazu gehöre auch, dass man Dinge einfach mal machen und im Zuge dessen auch einige Prozesse ändern sollte.
Quelle: (Quelle: com! professional 5/21 )

Start-up-Mentalität

Doch was genau machen Start-ups denn nun so anders als traditionelle Unternehmen? Da ist zunächst einmal die Einstellung gegenüber den Mitarbeitenden. „Eine gute Unternehmenskultur ist heutzutage kein Nice-to-have mehr, sondern ein Muss“, erklärt Cassandra Hoermann, People Experience Lead bei Personio, einem Start-up für HR-Software. Unternehmen sollten einen Ort schaffen, an dem Mitarbeitende gerne sind. „Eine gute Unternehmenskultur legt die Basis dafür, dass Mitarbeitende sich wohlfühlen und zufrieden sind, sich also engagiert einsetzen, und somit länger im Unternehmen bleiben.“
Laut Hoermann haben Arbeitgeber inzwischen verstanden, dass sie bezüglich der Arbeitsbedingungen online eine gewisse Transparenz an den Tag legen müssen. Jobsuchende investierten mehr Zeit und Energie in die Erforschung der Unternehmenskultur, bevor sie eine Stelle annehmen. Das habe eine Dynamik geschaffen, in der Arbeitgeber mit einer starken Arbeitsplatzkultur einen starken strategischen Einstellungsvorteil genießen würden. „Das hat das Verhalten der Bewerbenden und die Fähigkeit der Unternehmen, die benötigten Talente zu gewinnen, dramatisch verändert.“
Wie eine solche Start-up-Mentalität in der Praxis aussieht, erklärt Tobias Heyne, Solution Specialist bei Tresmo. Das junge Unternehmen berät unter anderem rund um IoT- und Cloud-Lösungen. „Wir als Team fühlen uns persönlich verantwortlich für unser Tun und damit für den Weg, den wir gemeinsam als Unternehmen gehen. Das motiviert uns ungemein.“ Flache Hierarchien sorgten dafür, dass man oft mit den Geschäftsführern gemeinsam in Projekten arbeite und gemeinsame Entscheidungen treffe, „das stärkt das Wir-Gefühl und verhindert hierarchisches Denken, Barrieren und Silos.“ Jeder habe einen großen Gestaltungsspielraum und könne über kurze Entscheidungswege seine Ideen umsetzen. Und wenn große Entscheidungen mit Auswirkungen auf das gesamte Unternehmen anstünden, dann würden diese gemeinsam beleuchtet.
Viele Unternehmen verfügen jedoch über eine Struktur – mit entsprechenden Hierarchien und Arbeitsweisen –, die sich über einen langen Zeitraum entwickelt hat. Diesen nun eine gewisse Start-up-Mentalität „einzuhauchen“, ist da gar nicht so einfach. Nach Ansicht von Ottonova-CEO Roman Rittweger sollte ein Kulturwandel im Unternehmen „auf jeden Fall sehr rücksichtsvoll und mit viel Zeit geschehen“. Die Strukturen etablierter Unternehmen seien über Jahrzehnte gewachsen, da sei es verständlich, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter irritiert reagieren, wenn ihnen ihre Führungskraft plötzlich das Du anbietet und nach Scrum-Methoden arbeiten möchte. Rittwegers Empfehlung: „Schritt für Schritt kann man kleine Veränderungen einführen, die dann oft schon große Bedeutung für die Belegschaft haben.“

Erfolgreiches Scheitern

Doch jedes Tun und jede Veränderung birgt immer auch die Gefahr, dass etwas missglückt und nicht gelingt. Ein Pro­blem, das viele mittelständische Unternehmen und Großkonzerne haben, ist die Angst zu scheitern. Wenn ein Projekt oder ein neues Produkt nicht zu einem Erfolg wird, dann sieht man häufig nur das Scheitern, nicht aber die positiven Aspekte. Dabei gibt es auch bei schiefgelaufenen Projekten immer etwas, das man mitnehmen und woraus man lernen kann.
„Die Angst vor dem Scheitern ist an sich kein Problem – aufgrund der Kosten, die mit dem Scheitern verbunden sind, sind etablierte Unternehmen allerdings oft weniger experimentierfreudig“, erklärt André Schindler, General Manager EMEA bei NinjaRMM, einem Anbieter für Fernwartungs-Software. Scheitern sei für größere Firmen schlicht kostspieliger als für Start-ups. „Mittelständische und große Unternehmen operieren in einem größeren Maßstab als Start-ups, und daher erfordern neue Initiativen, Produkte und Markteinführungen erhebliche Ressourcen.“
Natürlich gehen auch Start-ups mit ihrer Scheitern-Strategie ein beträchtliches Risiko ein. Dieses Risiko in Kauf zu nehmen ist für sie der richtige Weg, um Projekte schnell umzusetzen. Es funktioniert auch, weil viele Start-ups im Vergleich zu den Großen oft nicht viel zu verlieren haben. „Das kann ein etabliertes Unternehmen sicher nicht. Da steht zu viel auf dem Spiel“, sagt Mike Gregor von SolidLine.
Nach Roman Rittwegers Auffassung hat die Angst vor dem Scheitern nicht unbedingt etwas damit zu tun, ob es sich um ein altgedientes Unternehmen oder ein junges Start-up handelt. Für ihn ist es reine Einstellungssache: „Es ist wohl eher die Eigenschaft eines guten Unternehmers und einer guten Unternehmerin, keine Angst vor dem Scheitern zu haben.“
Das Jungunternehmen Tresmo etwa räumt seinen Mitarbeitenden einen gewissen freien Entscheidungsbereich ein, in dem man durchaus das eine oder andere Risiko eingehen darf – das sich oft durch großen Erfolg bezahlt macht. „Geht etwas schief, bereiten wir die Fehler so auf, dass wir alle etwas daraus lernen und so besser werden“, erklärt Tobias Heyne.
Ein offener Umgang mit Fehlern ist seiner Ansicht nach heute noch viel zu wenig verbreitet. „Für Start-ups ist es immens wichtig, gemeinsam aus Fehlern in Projekten zu lernen.“ Durch diese Fehlerkultur erhöhe man seinen Wirkungsgrad, vermeide lange Planungsprozesse und komme zügig ins „Doing“. Oft hat man den Eindruck, als hätten Start-ups überhaupt keine Angst vor dem Scheitern. „Das ist sicherlich falsch, wenn man bedenkt, wie viel Mühe und Herzblut die Teams in ihre Ideen investieren“, so Heyne. In größeren Unternehmen agierten viele Manager im Vergleich zu Mitarbeitern eines Start-ups dagegen eher „risiko­avers“. Dabei sollte Risiko nicht per se als negativ betrachtet werden. „Ein Risiko einzugehen kann auch eine Chance bedeuten.“ Risikofreude verlange eben aber auch nach einer etablierten Fehlerkultur. Tresmo treibe mit seinem offenen Umgang mit Fehlern oft dazu an, auch risikobehaftete unternehmerische Entscheidungen zu treffen. So sei für das Beratungsunternehmen bei einem Vorhaben erst einmal „das Glas stets halb voll“.

Alte Tugenden und Zusammenarbeit

Nicht alles, was neu ist, ist allerdings automatisch besser. So gibt es genügend alte Tugenden, die sich etablierte Unternehmen unbedingt bewahren sollten – und von denen Start-ups lernen können. Während zum Beispiel mittelständische und große Unternehmen unter Umständen langsamer sind, wenn es darum geht, ein neues Produkt zu entwickeln oder auf den Markt zu bringen, so verwenden diese auch mehr Zeit für die Validierung. „Auf diese Weise erhöhen sie die Chance, dass ihre Ideen letztlich ebenfalls zum Erfolg führen“, so André Schindler von NinjaRMM.
Die Wahrheit – in diesem Fall der richtige Weg zum Erfolg – liegt, wie so häufig, irgendwo dazwischen. Es geht also nicht darum, dass Unternehmen nun alle ihre Strukturen über Bord werfen und plötzlich ganz und gar wie ein Start-up agieren müssen. Auch im Rahmen einer Zusammenarbeit mit jungen Unternehmen lässt sich von deren Vorteilen profitieren.
Roman Rittweger glaubt, dass die Koexistenz von eta­blierten Unternehmen und Start-ups der richtige Weg ist: Beide lernten voneinander und könnten die für sie wichtigsten Vorteile annehmen. Er betont, dass beide Seiten aufeinander zugehen und offen für die Zusammenarbeit sein sollten.
Doch wie kann eine solche Zusammenarbeit ganz konkret aussehen? Die in vielen Fällen erfolgreichste Form der Kooperation sind zunächst Pilotprojekte. Dabei wird eine Firma oder ein großer Konzern Kunde eines jungen Unternehmens. Das bringt erst einmal Vorteile für Letztere: „Start-ups profitieren in erster Linie natürlich von einem Invest in das eigene Vorhaben. Die Budgets sind in der Regel rar und gelten als limitierender Faktor. Aber Start-ups profitieren auch von bekannten Namen gewisser Partner, weil diese potenziellen Kunden ein Gefühl von Sicherheit vermitteln“, erläutert Sebastian Heger, Solution Specialist bei Tresmo. Zudem besäßen große Unternehmen vielfach starke Netzwerke, einen großen Kundenstamm und wertvolle Markterfahrung.
Aber auch etablierte Unternehmen profitieren laut Heger von dieser Art und Weise einer Zusammenarbeit: „Neue Geschäftsmodelle, innovative digitale Lösungen, Produkte und Dienstleistungen können abseits des Kerngeschäfts entwickelt und erprobt und bei Bedarf in das Unternehmen integriert werden.“
Eine weitere Variante der Zusammenarbeit ist das Modell der sogenannten Venture Client Unit. Hierbei wird ein Unternehmen, wie schon erwähnt, erst einmal Kunde eines Start-ups. Daraus kann später eine Beteiligung am Start-up werden oder es kann sogar zu einer Übernahme des Start-ups kommen.
Die Übernahme eines Start-ups bringt für beide Seiten Vorteile. Das Start-up profitiert von der Liquidität des Unternehmens und kann auf dessen Expertise und Erfahrung sowie auf seine Ressourcen zurückgreifen. Das kaufende Unternehmen erhält die Kompetenz und die Lösung des Start-ups dafür exklusiv.
Mitunter verleiben sich Unternehmen auf diese Weise natürlich auch aufstrebende Konkurrenten ein. Ein populäres Beispiel dafür ist Facebook: Das Unternehmen kaufte 2014 den Messenger-Konkurrenten WhatsApp für rund 20 Milliarden Dollar. Das Start-up WhatsApp war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt und beschäftigte rund 50 Mitarbeiter. Bereits 2012 hatte Facebook rund eine Milliarde Dollar für die Social-Media-Plattform Instagram bezahlt, die bis dato zwar 30 Millionen Nutzer hatte, aber keinerlei Gewinne erwirtschaftete.
Oft ist es von Vorteil, wenn Unternehmen nicht sofort versuchen, ein Start-up komplett zu integrieren. Die Übernahme von Instagram durch Facebook zeigt dies. Instagram wurde nicht in Facebook eingegliedert – und gilt heute als der wertvollste Teil des sozialen Netzwerks. Der Trick ist, die Kultur eines Start-ups anzuerkennen und einen Weg zu finden, diese zu fördern und von ihr zu lernen.
Auch das Unternehmen SolidLine arbeitet schon lange mit diversen jungen Firmen zusammen. Und das aus Überzeugung; „Wir lieben deren Mentalität und Kultur“, so SolidLine-Geschäftsführer Mike Gregor. „Wir haben die Erfahrung und das Start-up die Leichtigkeit. Man lernt gewissermaßen voneinander.“

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