Wie ein Virus die Digitalisierung vorantreibt

Im Gespräch mit Dr. Tilman Santarlus von der TU Berlin

von - 12.06.2020
Tilman Santarius
Dr. Tilman Santarlus: Professor für Sozial-Ökonomische Transformation und Nachhaltige Digitalisierung an der TU Berlin und am Einstein Center Digital Futures
(Quelle: ECDF/PR - Felix Noak )
Wer profitiert eigentlich von der Corona-Krise, und wie lassen sich die positiven Umwelteffekte von Homeoffice und Homeschooling in die Nach-Corona-Zeit retten? Tilman Santarius, Professor für Sozial-Ökologische Transformation und Nachhaltige Digitalisierung an der TU Berlin und am Einstein Center Digital Futures, gibt Antworten.
com! professional: Herr Professor Santarius, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit der digitalen Transformation und deren sozial-ökologischen Folgen. Wie bewerten Sie den Einfluss der Corona-Krise auf die Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft?
Tilman Santarius: Die Digitalisierung hat durch die Pandemie und die darauf folgenden Ausgangsbeschränkungen enorm an Fahrt gewonnen. Damit meine ich gar nicht mal so sehr die Investitionen in IT-Forschung und -Entwicklung, sondern vielmehr ganz konkret die Nutzung der vorhandenen Soft- und Hardware am Arbeitsplatz und im privaten Umfeld. Videokonferenzen, soziale Medien, digitale Lern- und Unterhaltungsplattformen erleben gerade einen enormen Nachfrageschub.
com! professional: Manche sprechen sogar schon von einer Zwangsdigitalisierung. Werden wir durch die Pandemie quasi zum „digitalen Glück“ gezwungen?
Santarius: Einen direkten Zwang wie in China oder Südkorea, etwa sich per App überwachen zu lassen, gibt es hierzulande ja nicht. Aber es ist natürlich ein gewisser Druck da, digitale Tools zu nutzen, um Kommunikation und Produktivität im Homeoffice sicherstellen zu können.
Auf die Schulsituation übertragen gilt: Wer jetzt als Schülerin oder Schüler schlechten oder gar keinen Zugang zu digitalen Medien hat, der hat wirklich das Nachsehen. Insofern kann man von einem indirekten Zwang reden. Ich würde das aber nicht notwendigerweise negativ bewerten.
com! professional: Gerade beim Homeschooling wird die Spaltung der Gesellschaft überdeutlich. Auf der einen Seite die reiche Mittel- und Oberschicht, in der jedes Kind sein eigenes Smartphone und seinen eigenen Laptop hat, auf der anderen arme Familien und Alleinerziehende, die sich die digitale Vollausstattung nicht leisten können. Wie kann man hier gegensteuern?
Santarius: Das ist eine Frage von Umverteilung und Gerechtigkeit. Wir müssen den Familien und Kindern unter die Arme greifen, die sonst abgehängt werden. Es wurde ja ohnehin im Digitalpakt beschlossen, fünf Milliarden Euro für die Digitalisierung der Schulen auszugeben. Wir sollten einen Teil dieses Geldes nutzen, um die Familien mit Hard- und Software auszustatten, die keinen oder einen nicht ausreichenden Zugang zu digitalen Lernformen haben.
com! professional: Die Idee hinter dem Digitalpakt war aber doch eine andere. Sollten für das Geld nicht eigentlich die Schulen mit moderner Technik ausgestattet werden?
Santarius: Das habe ich schon vor Ausbruch der Corona-Krise kritisiert. Natürlich braucht jede Schule einen guten Breitbandanschluss und eine ordentliche WLAN-Abdeckung. Aber es muss nicht jeder Klassenraum mit 30 Tablets ausgestattet werden, wenn die Schülerinnen und Schüler sowieso zu Hause Smartphone und Notebook haben.
Viel besser wäre es nach der Regel „One Person, One Device“ darauf zu achten, dass alle Zugang zu den digitalen Lernmitteln erhalten. Dann muss die Digitalisierung der Schule selbst gar nicht so stark vorangetrieben werden.
com! professional: Die Schulen zeigten bisher ohnehin wenig Interesse am Digitalpakt. Von den fünf Milliarden ist nach Angaben des Branchenverbands Bitkom ein Jahr nach Verabschiedung nur ein Bruchteil abgerufen worden. Warum sind die Bildungseinrichtungen so zögerlich?
Santarius: Viele Schulen waren und sind skeptisch, Hardware für jedes Klassenzimmer anzuschaffen, womöglich begleitet von mehrjährigen Verträgen mit den großen Digitalkonzernen. Es gab viele Diskussionen um Abhängigkeiten und Datenschutz. Diese Diskussionen bräuchten wir nicht, wenn Haushalte dabei unterstützt würden, sich privat eine bessere IT-Ausstattung anzuschaffen. Dann können die Kinder dieses Equipment mit in die Klasse bringen beziehungsweise für das Homeschooling verwenden.
com! professional: Die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig fordert in einem Interview mit dem „Spiegel“, Datenschutzregeln zu lockern. Was halten Sie von solchen Forderungen?
Santarius: Ich finde die Diskussion bedauerlich. Natürlich kann der Einsatz von Apps helfen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Aber dazu ist keine Einschränkung des Datenschutzes vonnöten. Es gibt Apps, die dezentral funktionieren und höchsten Datenschutzstandards genügen. Forscher und Geheimdienste könnten dann zwar nicht auf die personalisierten Daten der Nutzer zugreifen, aber für die Eindämmung der Krise hätte es praktisch denselben Effekt. Zum Glück scheint die Bundesregierung endlich diesen Pfad einzuschlagen.
com! professional: Für Umwelt und Klima haben die Ausgangsbeschränkungen durchaus positive Effekte. Der Pendelverkehr ist massiv zurückgegangen, besonders umweltschädliche Freizeitaktivitäten wie Flugreisen und Kreuzfahrten sind nahezu völlig zum Erliegen gekommen. Glauben Sie, dass dies eine nachhaltige Entwicklung ist, oder befürchten Sie, dass Umweltbelastung und CO2-Ausstoß nach der Krise durch den Rebound-Effekt eher noch zunehmen werden?
Santarius: Natürlich werden die Straßen in den Städten nicht so leergefegt bleiben. Nach dem Lockdown müssen die Menschen wieder zur Arbeit, in ländlichen Gebieten werden sie leider auf absehbare Zeit noch auf das Auto angewiesen sein. Ich glaube aber auch, dass in vielen Sektoren, die Homeoffice vor Corona sehr kritisch gegenüberstanden, ein Umdenken eingesetzt hat. Man hat gesehen, dass Telearbeit durchaus mit Jobbeschreibungen vereinbar ist, wo man das bislang für unmöglich gehalten hat. Viele Arbeitnehmer haben durch die positiven Erfahrungen jetzt auch mehr Interesse am Homeoffice - vielleicht nicht gerade fünf Tage die Woche, aber womöglich ein oder zwei Tage. Daher glaube ich, dass ein Teil dieser Vorteile erhalten bleibt. Wenn man die positiven Umweltwirkungen hiervon allerdings verstetigen will, sind flankierende Maßnahmen notwendig. Sonst kommt es tatsächlich zu den klassischen Rebound-Effekten - die Menschen haben beispielsweise mehr Geld übrig, weil sie weniger häufig zur Arbeit fahren müssen, und investieren das dann in Kurztrips ins Wochenende, weil die Flugreisen nach der Krise vielleicht schön billig sind.
com! professional: Die Digitalbranche selbst ist an der Klima­erwärmung auch nicht ganz unschuldig. Einer französischen Studie zufolge steigt der energetische Fußabdruck der Digitalindustrie jedes Jahr um 9 Prozent, ihr Anteil an der globalen Produktion von Treibhausgasen ist seit 2013 um rund 50 Prozent gestiegen. Tauschen wir also einfach nur einen Klimakiller gegen den anderen aus?
Santarius: Die Digitalbranche muss natürlich in Richtung erneuerbare Energien umsteuern und sich auch viel stärker fragen, wie der Verbrauch von Energie - egal ob fossil oder erneuerbar - verringert werden kann. Vor diesem Hintergrund finde ich es erfreulich, dass Netflix, Facebook und Youtube angekündigt haben, die voreingestellte Streaming-Qualität herunterzusetzen. Diese Maßnahme hatte ich schon lange vor der Krise gefordert. Große Digitalkonzerne wie Google setzen darüber hinaus vermehrt auf erneuerbare Energien, andere wie etwa Amazon, aber auch die vielen mittelgroßen Anbieter tun hier noch viel zu wenig. Die Mehrverbräuche durch die gestiegene Nutzung in der Corona-Krise sind aber auf jeden Fall um ein Vielfaches niedriger als die Reduktion durch das geringere Verkehrsaufkommen. Wir sparen also auf jeden Fall drastisch CO2 ein. Arbeiten im Homeoffice ist wesentlich umweltfreundlicher als Pendeln.
com! professional: Aktuell profitieren vor allem die großen amerikanischen Konzerne vom Digitalisierungsschub. Wie kann man hier gegensteuern?
Santarius: Alternative Modelle sind durchaus vorhanden. Kommunen wie Pfaffenhausen haben schon vor der Krise lokale Online-Marktplätze gegründet, um den Einzelhandel vor Ort mit
Lieferdiensten zu kombinieren und so eine Alternative zu Amazon zu schaffen. Mehr solcher Initiativen wären in der Krise sehr wünschenswert gewesen. Auch bei den Videokonferenzdiensten gibt es Open-Source-Alternativen zu den großen amerikanischen Anbietern.
com! professional: Was tut die Politik, um unsere Abhängigkeit von amerikanischen Digitalkonzernen zu reduzieren?
Santarius: Ich sehe nicht, dass die Politik diese Entwicklung aktiv gestaltet. Es stellt sich die Frage, wie Digitalisierung nicht nur ökologisch nachhaltig, sondern auch sozial ausgewogen entwickelt werden kann, damit die Monopolisierungstendenzen nicht noch verstärkt werden.
Ich würde mir wünschen, dass die Politik hier deutliche Signale setzt - gerade jetzt in der aktuellen Corona-Krise.
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