Wie ein Virus die Digitalisierung vorantreibt

Läden vor dem Aus?

von - 12.06.2020
Corona puscht Online-Shopping
Dauerhafter Wandel: Die große Mehrheit der Verbraucher, die wegen Corona mehr im Internet bestellen, will das nach Ende der Pandemie beibehalten.
(Quelle: Kantar/Detail online (n = alle, die derzeit online einkaufen, in Deutschland 870), rundungsbedingt nicht 100 Prozent )
Besonders drastisch hat die Corona-Krise im Handel den Druck erhöht, sich digital zu transformieren. Den meisten Geschäften fällt der Schritt ins Digitalzeitalter allerdings schwer. Einer Studie von Bitkom Research zufolge bezeichnen sich mehr als 70 Prozent der deutschen Handelsunternehmen beim Thema Digitalisierung als Nachzügler, für 65 Prozent stellt sie eine große Herausforderung dar. Vor allem der Fachkräftemangel macht den meisten Händlern bei ihrer Digitalisierung zu schaffen. 71 Prozent der Befragten sehen ein Problem darin, Mitarbeiter mit Digitalkompetenz zu finden.
An sich haben die meisten die Chancen der Digitalisierung durchaus erkannt. Zwei Drittel verkaufen bereits offline und online, allerdings erwirtschaften nur 8 Prozent mit ihrem Online-Geschäft mehr Umsatz als im stationären Handel. Ein Viertel der Umfrageteilnehmer macht noch gar keine Online-Umsätze. Gerade sie traf die wochenlange Schließung nahezu aller Ladengeschäfte außerhalb des Lebensmittelbereichs besonders hart.
Vor allem kleine stationäre Einzelhändler kämpften aber auch schon vor der Krise ums Überleben. Nach Berechnungen des Instituts für Handelsforschung IFH Köln werden je nach Szenario bis 2030 zwischen 26.000 und 64.000 Einzelhändler aufgeben. Die Corona-Krise wird das Sterben nach Ansicht von Gerrit Heinemann, Professor für Betriebswirtschaft, Managementlehre und Handel sowie Leiter des eWeb Research Centers an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach, noch beschleunigen: „Einen großen Teil der lokalen Händler wird es nicht mehr geben“, sagte der Wissenschaftler im 3sat-Wirtschaftsmagazin „makro“ voraus.
Für den Online-Handel scheint die Krise auf den ersten Blick dagegen ein Geschenk zu sein. Der Anteil der Verbraucher, die 50 Prozent oder mehr ihrer Einkäufe online erledigen, sei deutlich gestiegen, meldet das Marktforschungsinstitut Kantar mit Bezug auf eine im Auftrag von Detail Online durchgeführte Umfrage, für die Ende März 2020 Verbraucher in Großbritannien, Deutschland und Frankreich befragt wurden. Fast 90 Prozent der deutschen Umfrageteilnehmer hielten es dabei für wahrscheinlich, dass sie auch nach der Krise im gleichen Umfang online einkaufen werden.
Doch den meisten Online-Händlern nützt dieser E-Com­merce-Boom wenig. Nur 9 Prozent der vom Online-Handelsverband Händlerbund im März 2020 befragten Unternehmen vermeldeten einen positiven Effekt der Corona-Krise auf ihr Geschäft. Bei einer zweiten Umfrage im April waren es immerhin 27 Prozent. Mehr als die Hälfte musste dagegen Umsatzeinbußen hinnehmen. „Die Wahrheit ist, dass eine Seite sehr stark von der Coronakrise profitiert und die andere Seite sehr stark darunter leidet“, erklärt Tim Arlt, COO beim Händlerbund. „Kleinere Händler können aufgrund ihrer Strukturen, aufgrund von Lieferengpässen, Personalmangel und geringeren Investitions-Budgets nicht so optimal und agil auf die Krise reagieren wie die Großen.“
Tim Arlt
Tim Arlt
COO beim Händlerbund
www.haendlerbund.de/de
Foto: Händlerbund
„Wer in der Krise nachhaltige Lösungen findet, der kann langfristig von den aktuellen Entwicklungen profitieren.“
Zu den Profiteuren gehören denn auch vor allem die Großen, allen voran Amazon. Für den Marktführer bedeutete Corona starke Umsatzzuwächse und satte Gewinne. Während Milliardäre wie Microsoft-Gründer Bill Gates, Bernard Arnault, Chef von Luxusmarken wie Louis Vitton und Dior, oder der Großinvestor Warren Buffet dem „Bloomberg Billionaires Index“ zufolge in der Krise viele Milliarden verloren, stieg das Vermögen des Amazon-Gründers Jeff Bezos seit Jahresbeginn um rund 24 Milliarden auf 138 Milliarden Dollar (Stand Mitte April 2020). Das Unternehmen stellte allein in den USA 100.000 zusätzliche Mitarbeiter ein und verdiente nach Berechnungen der britischen Zeitung „The Guardian“ im ersten Quartal 2020 rund 10.000 Dollar pro Sekunde.
Auch in Deutschland spielt Corona dem Weltmarktführer in die Hände. Nach Ansicht von Vera Demary, Leiterin des Kompetenzfelds Digitalisierung, Strukturwandel und Wettbewerb beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), sind es vor allem die Bekanntheit des Online-Händlers, die Breite des Sortiments und das Vertrauen in die Liefersicherheit, die Amazon in der Corona-Krise zusätzlich Umsatz bescheren. „Amazon hat bereits erhebliche Marktmacht“, schreibt
Demary in einem IW-Kurzbericht. „Sollte sich diese im Zuge der Corona-Krise ausbauen, gilt es umso mehr, die konsequente Anwendung des bestehenden Wettbewerbsrechts im Auge zu behalten, damit ein fairer Wettbewerb mit kleineren Online-Händlern gewährleistet ist.“
Um im hart umkämpften E-Commerce-Markt neben Amazon bestehen zu können, sind laut Händlerbund-COO Tim Arlt Flexibilität und Innovationskraft von entscheidender Bedeutung: „Wer kann, sollte jetzt die Chance nutzen, Prozesse anpassen, Sortimente überdenken und selbstverständlich weiterhin die Automatisierung und Digitalisierung der Prozesse vorantreiben.“ Warenwirtschaftssysteme, die automatisierte Abholung von Paketen, aber auch ein professionelles Kundenmanagement seien wesentliche Bestandteile dieser Transformation. „Es gilt, im Online-Handel die Vorteile zu bieten, die der stationäre Handel nicht leisten kann, und darüber hinaus persönliche Beratung und individuelle Angebote bereitzustellen“, fordert Arlt. „Wer in der Krise nachhaltige Lösungen findet, der kann langfristig von den aktuellen Entwicklungen profitieren.“
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