Machtgebärden prägen die digitale Revolution

KI ist Turbo-Booster der Digitalisierung

von - 18.03.2020
com! professional: Sie haben einen sehr breiten Blick auf das Thema KI. Das zeigt sich auch in der KI-Ausstellung im Ars Electronica Center in Linz. Was fasziniert Sie, was schreckt Sie?
Stocker: Mich fasziniert, dass KI ein absoluter Turbo-Booster der Digitalisierung ist. Die Technologie hat in relativ kurzer Zeit Dinge möglich gemacht, die wir uns vor einem oder sogar einem halben Jahr kaum vorstellen konnten. Wir haben in der Ausstellung mit GPT-2 ein Transformer-Modell, das Texte schreiben und Musik komponieren kann. Es wäre noch vor einem halben Jahr kaum denkbar gewesen, dass das so schnell geht. Interessant finde ich auch, wie durch den Begriff Künstliche Intelligenz eine Aneignung des Themas auf einer wesentlich breiteren gesellschaftlichen Basis passiert. Als wir vor zwei, drei Jahren über Dinge wie Big Data, Internet der Dinge oder Industrie 4.0 geredet haben, war die Reaktion aus der Bevölkerung abweisend nach dem Motto: „Sorry, das verstehe ich nicht.“ Aber Künstliche Intelligenz ist ein Stammtischthema.
Und zum ersten Mal in der ganzen digitalen Revolution gibt es die Situation, dass sich eine breite Bevölkerung zuständig fühlt und keine Scheu davor hat, über das Thema zu reden. Das könnte ein richtiger Katalysator bei der Bewältigung der Problematik sein.
com! professional: KI braucht Daten. Müssen wir mit Daten künftig freigebiger umgehen oder sparsamer?
Stocker: Der Traum ist, dass wir Daten in einer Form nutzen können, in einer Welt, einer Gesellschaft, in der man dem Einzelnen keinen Strick daraus dreht. Und das erfordert ein grundsätzliches Bekenntnis zur Menschenwürde. Das ist eine der größten Herausforderungen.
com! professional: Ist das nicht eine Utopie?
Stocker: Es mag eine Utopie sein, aber eine, die die Menschen seit Jahrtausenden immer wieder anstreben. Ich gehe davon aus, dass wir einen neuen gesellschaftlichen Konsens für den Umgang mit Daten brauchen. Ich glaube, dass wir lernen müssen, damit zu leben, dass unsere Privatsphäre, wie wir sie kannten, vorbei ist. Da kann man jetzt lamentieren, aber das Problem ist gar nicht so sehr, dass unsere Daten nicht mehr privat sind, sondern dass wir im gleichen Ausmaß um die Verlässlichkeit von Öffentlichkeit betrogen worden sind. Die großen digitalen Services sind keine öffentlichen Dienstleistungen. Wir haben die Öffentlichkeit abgeschafft und den digitalen Landlords übergeben, die völlig willkürlich die Spiel­regeln festlegen. Wer nicht mitmachen will, kann gehen.
Die Frage ist nur, wohin. Es gibt ja keine Alternative. Es geht nicht darum, verzweifelt eine Vergangenheit einer kleinkrämerischen Privatheit unserer Daten zu glorifizieren und wiederherzustellen. Es geht darum, ein vernünftiges gesellschaftliches, öffentliches Umgehen damit zu finden, dass Daten in dem Moment, wo sie digitalisiert sind, nicht mehr zu bändigen sind. Der Aggregatzustand des Digitalen ist, dass es - ähnlich wie wenn etwas von flüssig zu gasförmig wird - überall gleichzeitig ist. Aber die Antwort darauf darf nicht sein, alles einfach so hinzunehmen.
com! professional: Bis wann haben wir eine Lösung?
Stocker: Es sollte schnell passieren, aber einfach wird es nicht. Und es geht auch nicht ohne Kollateralschäden, dafür ist die Verwobenheit zwischen Machtinteressen aus Politik und Wirtschaft zu intensiv geworden. Aber diese Diskussionen gab es auch früher schon bei neuen Technologien und Entwicklungen. Als die Sicherheitsgurte in den Autos eingeführt wurden, konnte man überall lesen, dass man Menschen nicht in ihren Autos anbinden könne. Oder nehmen Sie die Nichtraucherbewegung. Wer hätte sich bis vor Kurzem träumen lassen, dass man das Rauchen so regulieren könnte, dass es fast in der ganzen Welt verpönt ist.
Nicht nur die europäische Stimme ruft nach Regulierung, auch in den USA gibt es da gerade eine enorme Dynamik. Die große Frage ist, wer dann die Spielregeln diktiert - und mit welchen Interessen. Das haben wir nach dem Rezo-Interview gesehen, als Politiker und Medien Spielregeln forderten.
com! professional: Wie geht es denn nun weiter?
Stocker: Künstliche Intelligenz wird in den kommenden Jahrzehnten massiv wichtiger werden in den Möglichkeiten und Anwendungen. Die Frage ist, was wir mit den Kapazitäten tun, die frei werden. Es ist großartig, wenn die KI Ärzte unterstützt, wesentlich besser und effizienter Krankheiten zu diagnostizieren. Aber die entscheidende Frage ist, ob man dem Arzt die Möglichkeit gibt, die frei gewordene Zeit mit den Patienten zu verbringen, oder nur die Krankenkassen Kosten sparen. Hieran sieht man wieder: Es ist nicht die Künstliche Intelligenz, die Probleme macht, sondern unser Umgang damit.
Verwandte Themen