Algorithmen pflegen statt Mandanten betreuen?

Im Gespräch mit Dr. Hariolf Wenzler von Schnittker Möllmann Partners

von - 20.08.2019
Hariolf Wenzler
Dr. Hariolf Wenzler: CEO von Schnittker Möllmann Partners
(Quelle: Hariolf Wenzler )
Hariolf Wenzler ist CEO bei Schnittker Möllmann Partners, einer Spezialkanzlei für Steuer- und Wirtschaftsrecht, und Gründungspräsident der European Legal Tech Association (ELTA). Im Interview mit com! professional erklärt er, wie Anwaltskanzleien und Unternehmen von Legal Tech profitieren und welche Hürden es noch zu überwinden gilt - auch bei der Jura-Ausbildung.
com! professional: Herr Wenzler, die Digitalisierung verändert auch das Rechtswesen und die Arbeit von Anwälten. Das Stichwort lautet Legal Tech. Wie bei vielen Begriffen kursieren auch hier verschiedene Definitionen. Was verstehen Sie unter Legal Tech?  
Hariolf Wenzler: Ganz allgemein betrifft Legal Tech alle Aufgaben von Juristen, die sich digitalisieren lassen. Konkreter sehe ich bei Legal Tech drei Ebenen. Die erste Ebene ist die Office-Digitalisierung, das machen alle Unternehmen. Die zweite Ebene betrifft spezifisch den Anwaltsberuf mit Software zu Themen wie Case-Management, Übersetzungen von Texten oder KI-gestützten Vorschlägen zum Erstellen von Verträgen. Als dritte Ebene verstehe ich Legal Tech im engeren Sinn als Rechtsberatung zur Analyse von Verträgen oder zur Vorbereitung von Entscheidungen. So lassen sich Fragen beantworten wie „Wie wahrscheinlich ist es, dass ich einen Fall vor Gericht gewinne?“
com! professional: Wie sieht es konkret in Ihrer Kanzlei aus? Inwieweit nutzt Schnittker Möllmann Partners bereits Digitalisierungstechnologien?
Wenzler: Da unsere Kanzlei erst vor zwei Jahren gegründet wurde, ist unsere IT natürlich sehr modern. Wir betreiben beispielsweise unser Projektmanagement und die Dokumentation in der Cloud und verfügen im Unterschied zu vielen anderen Kanzleien über standardisierte, dokumentierte Prozesse. Zudem verwalten wir unsere Anwaltskanzlei agil. Es gibt Kanban-Boards zum Management der Projekte sowie regelmäßige Scrum-Meetings.
Zu den Standards zählt auch Software mit maschinellem Lernen zur Analyse von großen Daten- und Textmengen, etwa zur Suche nach bestimmten Mustern. Beispiele sind Due Diligences bei Unternehmensübernahmen mit Prüfung von Verträgen oder Datenbanken mit wichtigen Urteilen und Fällen. Für Standard-Geschäftsvorfälle gibt es Vertragsgeneratoren, in einem Webportal werden Mandanten für wiederkehrende Geschäftsvorfälle durch einen intelligenten Assistenten oder einen Chatbot geführt. Damit lassen sich Prozesse beschleunigen und Kosten senken.
com! professional: Legal Tech birgt aber auch einige Risiken und verändert das Rechtswesen. Eine Studie von Boston Consulting und der Bucerius Law School, deren Geschäftsführer Sie lange Jahre waren, kommt zu einem krassen Ergebnis: 30 bis 50 Prozent der Arbeitsschritte, die derzeit Junior-Anwälte erledigen, könnten überflüssig werden.
Wenzler: Ja, das kann durchaus sein. In großen Anwaltskanzleien herrschen pyramidale Strukturen vor. Die Junior-Anwälte spezialisieren sich auf bestimmte Rechtsgebiete und müssen am Anfang als Teil der Ausbildung sehr viele Verträge lesen, um zu lernen. Diese Aufgabe übernimmt jetzt immer stärker die Software. Doch man könnte auch sagen: Wenn die Technik es kann, hätte es kein Anwalt tun müssen. Technik nimmt nichts weg, sondern unterstützt.
Anwälte können komplexe Probleme analysieren und brauchen einen kühlen Kopf in schwierigen Situationen. Sie beraten ihre Mandanten bei rechtlichen Schwierigkeiten und nehmen sie an die Hand. Wenn Technik sie von Routineaufgaben entlastet oder Prozesse beschleunigt, können sie sich auf ihre Kerntätigkeit konzen­trieren. Anwaltskanzleien, die auf Legal Tech setzen, sind attraktiv für junge Juristen.
com! professional: Apropos junge Juristen. Wie sieht es bei Ausbildung und Jura-Studium aus? Findet Legal Tech an den Universitäten statt?
Wenzler: Legal Tech ist leider noch kein examensrelevantes Thema an den Universitäten, da das Ausbildungsprogramm für Juristen zu 80 Prozent gesetzlich geregelt ist und Legal Tech darin nicht vorkommt. An den Universitäten in München, Münster, Mannheim oder der Hamburger Bucerius Law School ist der Impuls der Studenten zu Legal Tech groß. Sie werden selbst aktiv und organisieren Vorträge mit Experten. Sie finden aber oft keinen Professor oder kein Fach, das dieses Thema unterrichtet. Wir haben es gleichzeitig mit jungen Leuten zu tun, die sich schnell in Legal Tech einarbeiten wollen, und einem Hochschulsystem, das sich nicht oder nur langsam bewegt. Das ist sehr ernüchternd. Juraprofessoren, Richter und Staatsanwälte sind oft veränderungsresistent. Das ist ähnlich wie bei den Taxiverbänden mit Uber …
com! professional: Worin liegt die Parallele zu den Taxiverbänden und Uber genau?
Wenzler: In den regionalen Rechtsanwaltskammern stellen die kleinen und mittleren Anwaltskanzleien oft die Mehrheit. Diese sind aber in ihrer Ausbildung und ihrem Mindset nicht auf die Veränderungen durch Legal Tech vorbereitet oder sogar überfordert. Die Rechtsanwaltskammern schützen als Sprachrohr ihre Zielgruppe und treten nicht als Innovator auf. Ihr Ziel ist es, den Status quo zu bewahren. Sie unterstützen die Anwaltskanzleien nicht dabei, sich in der neuen Legal-Tech-Welt zurechtzufinden. Kluge Anwaltskanzleien hingegen probieren digitale Geschäftsmodelle aus.
com! professional: Sind die Rechtsabteilungen von Unternehmen hier schon weiter?
Wenzler: Das hängt von der Größe und der Branche ab. Grundsätzlich gilt: Unternehmen, die sich mit ihren Prozessen und ihrer Organisation dem digitalen Wandel stellen, sollten immer ihre Rechtsabteilung mit einbeziehen. Die Herausforderung besteht zunächst darin, die eigenen Prozesse zu kennen, dann die richtigen Technologien einzusetzen und so die Prozesse zu beschleunigen. Wenn das Unternehmen den rechtlichen Rat bei neuen Produkten oder Services schneller bekommt, hat es einen Wettbewerbsvorteil. Natürlich sinken dadurch auch die Kosten. Unsere Kanzlei berät auch Start-ups. Die neue Generation geht hier voran.
com! professional: Wie sieht Legal Tech in drei Jahren aus? Welche Trends sehen Sie?
Wenzler: Anwaltskanzleien werden beispielsweise Chatbots nutzen, mit denen sie entlang einer Menüführung für standardisierte Fälle intelligente Verträge automatisiert erstellen können. Weitere wichtige Entwicklungen sind die Themen Prediction für die Vorhersage von möglichen Urteilen aus der Analyse großer Datenmengen mit Fällen aus der Vergangenheit sowie die Visualisierung von Daten. Vieles von dem, was heute noch in Wort und Text vorliegt, wird künftig in Dashboards grafisch dargestellt. So werden etwa Fragen zur Compliance (Wie halten wir mit unseren Verträgen Gesetze und Regularien weltweit ein?) anschaulicher und leichter verständlich beantwortet. Beim Einsatz der Blockchain etwa für Grundbucheinträge bin ich skeptisch. Sie wird in drei Jahren noch kaum im Einsatz sein. Grundsätzlich rate ich allen Personen, die mit juristischen Tätigkeiten ihr Leben verdienen und länger als drei Jahre unterwegs sein wollen, sich mit Legal Tech zu beschäftigen.
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