Algorithmen pflegen statt Mandanten betreuen?

Nachholbedarf bei Kanzleien

von - 20.08.2019
BRAK
(Quelle: BRAK )
Die Realität sieht noch anders aus. Das Gros der Kanzleien steht beim Thema Legal Tech noch ganz am Anfang. Insbesondere bei kleineren und mittleren Kanzleien besteht Nachbesserungsbedarf. „Viele Anwälte haben nicht begriffen, wie viel Arbeit ihnen moderne Technologie ersparen kann. In Deutschland setzen nur 50 Prozent aller Kanzleien überhaupt eine Kanzlei-Management-Software ein. Alle anderen Kanzleien arbeiten noch mit Word, dem Windows Explorer und Outlook. Das halte ich gelinde gesagt für eine Katastrophe und ziemlich unwirtschaftlich“, konstatiert Christian Solmecke ernüchtert.  
Seine Kanzlei Wilde Beuger Solmecke dagegen geht hier voran. Sie mahnt beispielsweise säumige Mandanten automatisch per Software, generiert auf Knopfdruck Standardschreiben und leitet sie automatisch an Rechtsschutzversicherungen, Mandanten und Gegner weiter. „Wir machen das schon seit Jahren so, die meisten Kanzleien werden aber gerade erst wach und bekommen ein Gespür dafür, dass hier großer Handlungsbedarf besteht“, so Solmecke.
Martin Bartenberger von Ratis bestätigt das. „Das Interesse an Legal Tech ist da, es hapert allerdings bei der konkreten Umsetzung. Abgesehen von einzelnen Vorreitern und Vordenkern ahnen die anderen Kanzleien allenfalls, dass sie etwas tun müssen, wissen aber nicht, was und wie.“ Seiner Meinung nach senken Chatbots und Online-Tools für die Rechtsberatung die Hemmschwellen für Mandanten beim Gang zum Anwalt. „Viele Menschen empfinden den Weg zum Anwalt fast wie einen Zahnarztbesuch, sie fühlen sich als Bittsteller. Legal Tech vereinfacht den Weg, zu seinem Recht zu kommen“, meint Bartenberger.

Ein Berufsbild ändert sich

Legal Tech bietet nicht nur Vorteile für den Bürger, sondern auch für Anwälte. Sie können viel effizienter, transparenter und kostengünstiger arbeiten. „Der Einsatz von Software ist eine Mega-Chance, da sie immer wiederkehrende Prozesse automatisiert und damit den Anwalt von Routineaufgaben entlastet. Diesem bleibt dann mehr Zeit für die Beratung und komplexe Abwägungsentscheidungen, die sich nicht mit KI lösen lassen“, betont Maria Petrat von der Munich Legal Tech Student Association.
Maria Petrat
Maria Petrat
Vorsitzende Munich Legal Tech Association
www.ml-tech.org
Foto: Munich Legal Tech Student Association
„Der Einsatz von Software ist eine Mega-Chance, da sie immer wiederkehrende Prozesse automatisiert und damit den Anwalt von Routineaufgaben entlastet.“
Zudem entstehen neue Vergütungsmodelle. Christian Solmecke beispielsweise glaubt nicht, dass Anwälte künftig noch Stunden verkaufen können. „Der Wettbewerb verlangt immer häufiger Pauschalpreise. Hier wird der Einsatz moderner Technologien große Vorteile bringen. Wenn ich durch schnellere Recherche und kostengünstigere Erstellung von Schriftsätzen ein Mandat innerhalb von fünf Stunden statt wie bisher innerhalb von zehn Stunden abarbeiten kann, dann verschaffe ich mir als Kanzlei einen Wettbewerbsvorteil. Ich kann mit Pauschalpreisen günstiger am Markt agieren und so mehr Mandate gewinnen.“
Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Legal Tech hat natürlich auch Nachteile - und großes Potenzial, die Berufswelt und das Berufsbild von Anwälten erheblich zu verändern. Und das in einer Branche, die als sehr konservativ, traditionsbewusst und statusorientiert gilt. Die Bundesrechtsanwaltskammer vertritt die Interessen von rund 165.000 Anwälten, die meisten davon dürften als Einzelkämpfer oder in kleineren Sozietäten tätig sein. Sie verdienen ihr Geld meist als kleine Regionalkanzlei mit Erbstreitigkeiten, Scheidungen, Mietsachen oder anderen Rechtsstreiten. Meist läuft die Tätigkeit im persönlichen Kontakt mit den Schritten Zuhören, Bewerten und Beraten ab.
Legal-Tech-Angebote wie Flightright.de & Co. nehmen diesen kleinen Anwaltskanzleien tatsächlich in manchen Bereichen Mandate weg und gefährden deren Existenz. „Ich denke, die Nische für die klassischen Regionalkanzleien, die ihre Mandanten in einem Umkreis von 100 Kilometern finden, wird sich ausdünnen“, sagt Martin Bartenberger. Er geht davon aus, dass Legal Tech auch das Berufsbild und das Selbstverständnis von Juristen verändern wird. Sie seien mehr für individuelle Rechtsfragen zuständig, statt für standardisierte Dienstleistungen wie das Erstellen von wiederkehrenden Schriftsätzen oder die Analyse von Dokumenten.
„Letzteres übernehmen Software und Algorithmen. Denn es bietet sich an, den rechtlichen Code in Computercode zu übersetzen. Schließlich ist er in großen Teilen logisch in Wenn-dann-Konstruktionen strukturiert“, so Bartenberger. Das meiste von dem, was technisch zum Einsatz komme, sei regelbasierte Informatik. Es gebe aber auch juristische Fälle, etwa im Presserecht oder im Wettbewerbsrecht, die komplex und nicht eindeutig seien. „Hier greifen keine Algorithmen und es ist die Beratungskompetenz von Anwälten gefragt. Der menschliche Kontakt wird auch künftig wichtig sein“, ist sich der Technische Direktor von Ratis sicher.
Einsatzgebiete für Legal Tech
Legal Tech meint die Digitalisierung der juristischen Arbeit mit dem Ziel, Arbeitsprozesse und Services zu automatisieren und somit effizienter zu gestalten. Hier einige ausgewählte Einsatzgebiete von Legal Tech:
Digitale Akquise und (Online-)Marketing: Wie werde ich mit meiner Kanzlei von meiner Zielgruppe gefunden?
Kanzlei-Software: Anwendungen, die den Anwalt bei seiner Arbeit unterstützen (zum Beispiel Kanzleiverwaltung, und Abrechnung).
KI-gestützte Analyse-Software: Automatisierte Analyse von Dokumenten und Verträgen nach Klauseln, die gegen Recht verstoßen.
Software zur Erstellung von Dokumenten und Verträgen: Textbausteine werden fortlaufend aktualisiert und dem geltenden Recht angepasst.
Chatbot: Virtueller Assistent zur Kommunikation mit dem Kunden, zur Beantwortung einfacher Fragen und zum Erfassen von Daten. 
Plattformen: Vernetzung von Anwälten untereinander oder mit Mandanten wie Anwaltsmarktplätze (zum Beispiel Anwalt.de oder Jurato.de).
Smart Contracts: Programme auf Blockchain-Basis unterstützen die Abwicklung von Verträgen und lösen Aktionen automatisch in Form einer Wenn-dann-Bedingung aus. Sie könnten irgendwann Anwälte oder Notare ersetzen. Bislang gibt es lediglich Prototypen, zudem fehlen Standards und Gesetze.
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