Der lange Weg zum agilen Unternehmen

Mehr Schein als Sein

von - 01.02.2019
Agilität ist in deutschen Unternehmen schwer in Mode. Laut der Studie „Potenzialanalyse agil entscheiden“ des Beratungsunternehmens Sopra Steria halten 80 Prozent der befragten Manager die Einführung agiler Strukturen und Methoden für sinnvoll, 70 Prozent bezeichnen ihr Unternehmen als zumindest durchschnittlich agil.
„Die meisten Unternehmen haben erkannt, dass sie schneller und beweglicher werden müssen, um sich den veränderten Marktbedingungen besser anpassen zu können.“, weiß Urs M. Krämer, CEO von Sopra Steria Consulting, „Agilität steht deshalb auf der Agenda deutscher Führungskräfte weit oben.“
Ein genauerer Blick auf die Umfrageergebnisse zeigt jedoch, dass es sich hier zu einem nicht unerheblichen Teil um Selbsttäuschung handelt. Nur 19 Prozent der Befragten pflegen einen partizipativen Führungsstil, nur 30 Prozent gaben an, am Abbau von Hierarchien zu arbeiten. Und obwohl viele ihr Unternehmen als „stark datengetrieben“ bezeichnen, verlassen sich Manager vor allem auf eines: ihr Bauchgefühl. Bei 90 Prozent der befragten Führungskräfte beruhen Entscheidungen stark (48 Prozent) oder sogar sehr stark (42 Prozent) auf Erfahrung und Intuition - keine gute Idee, meint Krämer: „In einer Welt, in der die Digitalisierung das Innovationstempo vorgibt, sinkt die Halbwertzeit unseres analogen Erfahrungswissens dramatisch.“
Auch Svenja Hofert beobachtet ein großes Beharrungsvermögen in den Führungsriegen: „Manager haben sehr große Schwierigkeiten, sich von den erlernten Strategien zu verabschieden, mit denen sie in der komplizierten Welt erfolgreich waren.“ Die Begeisterung für agile Tools und Methoden sei ein Ausdruck dieser Haltung: „Neue Methoden zu finden oder Werkzeuge anzuwenden, sind klassische Lösungsansätze aus der Industrie 3.0.“ Oft erfüllten Scrum und andere agile Frameworks nur eine Alibifunktion. „Die Unternehmen verstehen das Konzept nicht. Scrum ist keine Methode, sondern ein Rahmen, der hilft, sich anders zu organisieren“, erklärt Hofert.
Die Enttäuschung sei in der Folge deshalb oft groß: „Es heißt dann, Scrum funktioniere nicht, dabei wird schon das Rollenkonzept in 80 Prozent der Fälle nicht richtig angewendet“, kritisiert Svenja Hofert. Sie warnt außerdem davor, die veröffentlichten Erfolgsgeschichten von agilen Projekten für bare Münze zu nehmen. „Man muss hinter die Kulissen schauen, in der Realität sind die Hürden oft viel größer als es in den Case-Studys dargestellt wird.“

Fazit & Ausblick

Der Hype um Agilität lässt oft zwei einfache Tatsachen vergessen. Erstens ist der agile Ansatz kein Allheilmittel. „Es gibt Felder, in denen agiles Arbeiten weder zwingend notwendig noch sinnvoll ist“, gibt Daniel Dubbel zu bedenken. Zweitens sind nicht wenige der als hip und neu beworbenen Techniken und Methoden alte Bekannte. „Vieles, was seit Jahren in der Teamarbeit gang und gäbe ist, wird heute als agil verkauft“, berichtet Klaus Tumuscheit.
Zudem haben die meisten Unternehmen anscheinend kaum verstanden, worum es bei Agilität im Kern geht. Eingefahrene Muster, Befehlsstrukturen und Hierarchien werden nicht schon dadurch besser, dass man ihnen neue Etiketten verpasst. Wenn der Abteilungsleiter sich „Scrum Master“ nennt, die Meilensteine im Fünfjahresplan als „Sprints“ verkauft werden und das Entwicklungsteam unter der Doppelbelastung aus operativen Aufgaben und Projektarbeit stöhnt, ist das Scheitern eines „agilen Projekts“ programmiert. Zu hart sollte man mit den Unternehmen allerdings auch nicht ins Gericht gehen, denn der Weg zu echter Agilität ist steinig. Karriere zu machen, bedeutete über Jahrzehnte hinweg die Akkumulation von Macht und Herrschaftswissen. Die entstandenen Hierarchien aufzubrechen, ohne Chaos auszulösen und das Unternehmen zu gefährden, ist nur sehr langsam, in kleinen Schritten und mit vielen Kompromissen möglich.
Ob man dabei auf Scrum, SAFe oder Kanban setzt, ein Digital Lab ins Leben ruft oder ein Corporate-Start-up gründet, ist letztlich zweitrangig. Technologien und Methoden können unterstützen und Orientierung für die Entwicklung bieten. Die Veränderung selbst muss jedoch in den Köpfen der Menschen stattfinden.
Ähnlich sieht man das auch bei der Direktbank ING. Die allerdings wagt gleich den ganz großen Sprung: Die drittgrößte deutsche Privatkundenbank mit 4000 Mitabeitern und 288 Millionen Euro Umsatz vollzieht die Transformation auf den „Agile Way of Working“ während des laufenden Betriebs und sie gibt sich dafür nur anderthalb Jahre Zeit. Schon in diesem Sommer will sie mit der Ablösung der bis­herigen starren Hierarchien, Prozesse und Abteilungen von multiprofessionellen Teams durch sein. Agilität ist dabei nur das Mittel, nicht das Ziel. Das besteht schlicht darin, schneller zu wachsen als die Konkurrenz – und Talente anzulocken. Wa­rum der ING-Vorstand dieses Experiment wagt, obwohl die Bank relativ erfolgreich war und ist, zeigt anschaulich ein You­tube-Video unter www.youtube.com/watch?v=
NRzTyTPnK-M.
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