Industrie 4.0 war gestern

Verhaltensmodelle für den Handel

von - 13.06.2017
com! professinal: Ich sehe, Machine Learning kann das Verhältnis zu Freunden ganz maßgeblich beeinflussen. Wer KI einsetzt, ist dabei eindeutig im Vorteil.
Schumann: Ja, aber auch im Handel gibt es viele Probleme, die man mit Verhaltensmodellen sehr gut lösen könnte. Zum Beispiel: Wann erhöhen Sie einen Preis, und wann reduzieren Sie ihn? Dafür müssen Sie ihren Warenbestand mit dem Kaufverhalten der Kunden, die sich gerade in ihrem Geschäft befinden, und dem Preisverhalten der Konkurrenz abgleichen. Lassen Sie mich ein einfaches, nicht ganz ernst gemeintes Beispiel erzählen, das den Mechanismus aber ziemlich gut erklärt. Nehmen wir an, ein leitender Angestellter, 40 Jahre alt, geschieden, möglicherweise in Begleitung seiner jüngeren Freundin, betritt nach 18.00 Uhr ein Schuhgeschäft. Dann wissen Sie, dass für diesen Kunden der Preis kaum eine Rolle spielen dürfte und es keine gute Idee wäre, jetzt eine Pricing-Down-Strategie zu fahren.
Maßgeblichen Einfluss auf den Preis hat außerdem die Geschäftsstrategie des Händlers. Möchte er die Kundenbindung stärken, oder möchte er vor allem abkassieren, also möglichst viel in möglichst kurzer Zeit verkaufen? Will er den größtmöglichen Profit mit den High-Volume-Kunden oder lieber alle Kunden möglichst gut bedienen, in Zürich, Amsterdam, Paris oder München? Hier stoßen Sie in eine Dimension vor, die so komplex ist, dass der Mensch sie nicht mehr überblicken kann. Die KI kann das aber schon und gibt ihnen am Samstag um 11.00 Uhr für ein Produkt in einer bestimmten Stadt für eine Kundengruppe, die gerade ihr Geschäft betreten hat, abgestimmt auf ihre Filiale und ihre Geschäftsstrategie eine ganz konkrete Preisempfehlung.
com! professional: Verhaltensmodellierte Algorithmen, die eine Vielzahl von Datenquellen anzapfen, krempeln die Verkaufswelt um. Da sieht die bisher bekannte, alte Empfehlungs-Engine von Amazon wie ein Spielzeug aus.
Lionel Messi
Nur Lionell Messi kann derzeitige KI-Systeme noch schlagen.
(Quelle: catwalker / shutterstock.com )
Schumann: Ähnlich können Sie zum Beispiel die Wartung von Maschinen optimieren. Nehmen wir an, Sie kennen das Verhalten einer Maschine und ein Verschleißteil droht auszufallen. Tauscht der Service-Techniker nur dieses eine Teil aus, oder gleich die ganze Einheit, weil dort ein zweites Teil mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten acht Wochen ebenfalls ausfällt. Oder lassen Sie den Wartungstechniker besser ein zweiten Mal just-in-time kommen, weil sein Büro um die Ecke liegt? Die Entscheidung liegt bei Ihnen und hängt von ihrem Servicemodell, ihren Garantieverpflichtungen und ihrer Risikobereitschaft ab. Sie wollen ihren vertraglichen Verpflichtungen unter minimalem Einsatz mit möglichst geringen Kosten nachkommen, und können mit den Daten plus ihrem Geschäftsmodell das Verhalten ihrer Wartungstechniker optimal steuern.

Meine Prognose lautet: Diejenigen Firmen, die die besten Ingenieure und die besten Verhaltensmodelle haben, werden in Zukunft ganz vorne mitspielen. Die Ingenieure haben das Domain-Wissen und können die Algorithmen bauen. Jedoch sieht für unterschiedliche Firmen der optimale Algorithmus unterschiedlich aus. Er hängt vom Verhaltensmodell (der Produkte und Mitarbeiter), von der Firmenstrategie und davon ab, wie ihre Firma mit ihren Kunden umgehen will.

Nur Lionel Messi kann KI noch schlagen

com! professional: Machen das die Walmarts und die Migros dieser Welt nicht schon?
Schumann: Die großen Ketten führen heute Warenkorbanalysen durch, um herauszufinden, wer wann welche Produkte kauft. Und sie beobachten den Wettbewerb. Ein junger Trend ist der Shop im Shop, etwa ein Blumen- oder Schokoladengeschäft. Schokolade und Blumen verkaufen sich immer. Entweder hatte der Kunde einen schlechten Tag und kauft die Blumen als Geschenk für seine Frau, um den Abend zu retten. Oder aber der Einkauf war erfolgreich und der Kunde nimmt die Blumen oder die Schokolade als Mitbringsel noch obendrauf. Mit Datenanalysen und Verhaltensmodellen können Sie beides steuern. Im Maschinenbau oder beim Transport läuft das ähnlich ab. Bei der italienischen Bahngesellschaft TrenItalia hat SAP die Wertschöpfung um 40 bis 50 Prozent verbessert. Daten zu sammeln ist erst der Anfang. Kombiniert mit Verhaltensmodellen und Prozesssteuerung stoßen Sie in völlig neue Dimensionen vor.
Auch der Fußball lässt sich mit Verhaltensmodellanalysen verbessern.  Was meinen Sie: Kann man mithilfe von Datenanalysen vorhersagen, wo ein Elfmeterschütze den Ball platziert?
com! professional: Individuell, für den einzelnen Schützen am Elfmeterpunkt?
Schumann: Ganz genau. Wir können das bereits in bestimmten Situationen mit einer Wahrscheinlichkeit von über 95 Prozent vorhersagen. Es gibt bestimmte Merkmale beim Elfmeter: der Druck auf den Schützen (seine Mannschaft führt oder liegt in Rückstand), die Schussgeschwindigkeit, die Anlaufgeschwindigkeit, die Schusstechnik (zum Beispiel Innen- oder Außenseite und so weiter) und – jetzt kommt das Beste – der sogenannte biomechanische Vor- oder Nachteil beim Anlauf . Unter Druck, also wenn die Mannschaft in Rückstand liegt, laufen manche Spieler beispielsweise  so unvorteilhaft an, dass sie nur noch in eine der beiden unteren Ecken schießen können. Je nach Anlauf lässt sich sogar prognostizieren, in welche der beiden Ecke diese Spieler den Ball platziert.

Das ist komplett vorhersagbar. Diese Spieler würde ich unter Druck keinen Elfmeter mehr schießen lassen.  Auf der anderen Seite gibt es Fußball-Genies wie Lionel Messi von FC Barcelona, ein raffinierten Trickser, dem kommen Sie selbst mit Machine Learning nicht auf die Schliche.
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