Blockchain-Versprechen: Decentralized Finance

Risiken und Illusionen

von - 12.10.2020
DeFi-Börsen-Boom
DeFi-Aktiva: Das monatliche Handelsvolumen an dezentralisierten Marktplätzen bricht seit Beginn der Corona-Krise alle Rekorde.
(Quelle: www.theblockcrypto.com)
Zu den Gefahren der „Blockchainerisierung“ zählen die Überschuldung von Unternehmen und das Verwässern von Eigentumsrechten. Zudem besteht das Risiko, dass Wirtschaftsakteure die Kontrolle über ihr Handeln verlieren. Der vollständig tokenisierte Mittelstand wäre dann nur eine Krise, nur einen Bug im Konsensprotokoll und einen Implementierungsfehler von der Enteignung entfernt.
Mit der wachsenden Verbreitung von DeFi-Lösungen nehmen auch steuerliche Fragestellungen an Relevanz zu. Während sich die Unternehmen von der Blockchainerisierung der Zahlungsabwicklung geringere steuerlich bedingte Verwaltungskosten erhoffen, reibt sich der Fiskus schon mal die Hände in Vorfreude auf neue Abgaben.
Der Gesetzentwurf zur Modernisierung des deutschen Wertpapierrechts und des dazugehörigen Aufsichtsrechts (elektronisches Wertpapiergesetz, eWpG) vom 10. August 2020 avisiert zum Beispiel die Schaffung eines elektronischen Registers auf Blockchain-Basis als Ersatz für die Papierurkunde mit dem Ziel, „Transparenz, Marktinte­grität und den Anlegerschutz“ zu verbessern. Darin enthalten ist auch bereits eine Verordnungsermächtigung für die verwendeten Steuerungsverfahren und Steuerungsmaßnahmen, die nicht der Zustimmung durch den Bundesrat bedarf (§ 23 Verordnungsermächtigung in Bezug auf Kryptowertpapierregister, Absatz 1, Punkt 14). Die Verwahrung von Krypto-Assets ist eine lizenzpflichtige Finanzdienstleistung und benötigt eine Genehmigung der Bafin. 
Die dezentralisierte Natur von DeFi könnte sich deshalb in der Tat als Illusion entpuppen. Denn die Rolle eines Intermediärs verschwindet nicht; seine Aufgaben übernimmt stattdessen eine Technologieplattform, die weitgehend ohne menschliches Zutun auskommt. Darin liegen theoretisch viele Vorteile. DeFi-Lösungen senken die Transaktionskosten und erhöhen die Granularität von Interaktionen der beteiligten Akteure. Dadurch können diese zusätzliche Liquidität in Umlauf bringen und neues Wachstum schaffen. Decentralized Finance verspricht außerdem eine höhere Transparenz und damit eine höhere finanzielle Sicherheit und soll so die Entstehung eines stärker integrierten Wirtschaftssystems fördern. Technisch ist das sicherlich machbar. Ob sich diese Ziele tatsächlich verwirklichen lassen, könnte vom regulatorischen Rahmenwerk abhängen.Die von vielen erhoffte Entkopplung der DeFi-Märkte von konventionellen Finanzmärkten hat sich bisher jedenfalls nicht realisiert. Am 12. März, inmitten der Corona-Krise, „tankten“ die Krypto-Märkte im Gleichschritt mit den Aktienmärkten - beide brachen um fast 40 Prozent ein.
Ein Großteil der Blockchain-Rhetorik positioniere die Technologie als einen „sicheren Hafen gegenüber der vermeintlichen Misswirtschaft des traditionellen Finanzwesens“ durch die führenden Banken, Großkonzerne und Regierungen, beobachten die Alethio-Analysten Everett Muzzy, Bogdan Gheorghe und Danning Sui in einem aktuellen Bericht zu DeFi. Der „schwarze Donnerstag“ am 12. März habe aber „ziemlich deutlich gemacht“, dass Krypto-Enthusiasten vorerst einsehen müssten, dass eine Wechselbeziehung mit traditionellen Märkten - zumindest bisher - durchaus gegeben sei und entsprechend adressiert werden müsse.
Auf der anderen Seite betont das Alethio-Papier aber auch die Vorteile der Datentransparenz, die mit DeFi einhergingen: Sie ermögliche es sowohl den Marktteilnehmern als auch außenstehenden Forschern und Software-Entwicklern, die Ursachen des Versagens der DeFi-Märkte unabhängig voneinander zu überprüfen. Anstatt den Ergebnissen von Analysen einiger handverlesener Institutionen mit privilegiertem Zugang zu zentralen Informationsquellen vertrauen zu müssen, habe die DeFi-Gemeinde als Ganzes die Stresspunkte ihres offenen Finanzsektors selbst untersuchen können, um ihn „gemeinsam auf ein stärkeres Fundament“ zu stellen.

Fazit & Ausblick

Decentralized Finance stellt bewährte Geschäftsmodelle und -praktiken auf die Probe. Das beachtliche disruptive Potenzial der Blockchain könnte in der Finanzbranche ein massives Stühlerücken auslösen. 
Die DeFi-Gemeinde will ein alternatives Finanzsystem schaffen, das „von unten nach oben“ und vollständig dezen­tralisiert aufkeimt: frei von Zensur, mit niedrigen und überschaubaren Gebühren, vollautomatisierungsfähig und ohne Kontrahentenrisiko. Inwiefern dies gelingt, dürfte auch vom Handeln der - wohlgemerkt zentralen - Regulierungsbehörden abhängen.
Beispiele für DeFi-Anwendungen
In der DeFi-Szene wimmelt es von Ideen für innovative Dienstleistungen, die auf völlig neuartigen Geschäftsmodellen auf­bauen. Einige Beispiele:
  • Kreditaufnahme und -vergabe: Plattformen wie Aave unterstützen die direkte P2P-Kreditvergabe ohne institutionelle Intermediäre; mit Features wie Credit Delegation können Aave-Nutzer die eigene Kreditlinie an andere Wirtschaftakteure mit oder ohne hinterlegte Sicherheit ausleihen.
  • Schutz vor Spekulationen: Auf der Kreditplattform Compound, die nach dem Stabelcoin-Prinzip arbeitet, erhalten Teilnehmer algorithmisch festgesetzte Zinsen für ihre hinterlegten Ethereum-Token, während die Plattform eben diese Krypto-Münzen interessierten Kreditnehmern ausleiht, um ihnen die Nutzung der zugehörigen DeFi-Dienste zu ermöglichen.
  • Liquidität: DeFi-Lösungen können aus zuvor ungenutzten, brachliegenden Vermögenswerten die darin „versenkte“ Liquidität freisetzen, bedeuten jedoch für die Unternehmen unter Umständen einen Verlust an Kontrolle.
  • Wertschöpfungsquellen: Das Projekt Maker will aus alternativen Vermögensarten neue Werte schöpfen, indem es unter anderem Darlehen durch die Urheberrechte an Musiktiteln absichert.
  • Tokenisierung von Vermögenswerten: Die Verbriefung „blockchainerisierter“ Vermögenswerte verspricht die Erschaffung neuer handelsfähiger Finanzinstrumente. Das Berliner Start-up Centrifuge ermöglicht es Unternehmen, Rechnungen oder Lieferscheine zu tokenisieren.
  • KI-gestützte Vermögensverwaltung: Die Tokenisierung von Vermögenswerten erlaubt die Nutzung von Künstlicher Intelligenz zur Echtzeitverwaltung der Teilrechte in Blockchain-Ökosystemen.
  • Kunden- und Identitätsmanagement: Das Münchner Start-up IDnow bietet eine Identity-as-a-Service-Plattform zum Überprüfen der Identität von potenziell mehr als 7 Milliarden Menschen in 193 Ländern in Echtzeit. TrueProfile.io hat auf der Basis der AutoIdent-Technologie von IDnow einen Dienst namens True­Identity vorgestellt, der globales Bewerbungsmanagement erleichtern soll.
  • Bezahlsysteme: DeFi-Start-ups haben die Umsetzung von Micropayments und automatischen Zahlungsläufen längst schon gemeistert und können beim Auftreten vorab festgelegter Bedingungen Zahlungsflüsse automatisch auslösen; die optionale Anknüpfung an IoT-Systeme erweitert diese Automatisierung auf Abläufe in der realen Wirtschaft.
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