Finanzbranche im Wandel

Blockchain-Versprechen: Decentralized Finance

von - 12.10.2020
Blockchain
Foto: Yurchanka Siarhei / shutterstock.com
Mit Blockchain-basierten Konzepten verlässt die Finanzbranche ausgetretene Pfade. Die Sprache ist von Dezentralisierung, Zensurfreiheit sowie niedrigen und transparenten Kosten.
Wert des DeFi-Marktes im 1. Quartal 2020
(Quelle: Alethlo Analytics )
Eine Folge der weltweiten Corona-Krise ist eine wachsende Bereitschaft, ausgetretene Pfade zu verlassen. Diese Beobachtung gilt auch und gerade für Finanzdienstleistungen. Dabei fällt auf: Während sich althergebrachte Finanz­institute hinsichtlich ihres bisher durchaus vorbildlichen Krisenmanagements noch auf die Schulter klopfen, hoffen insbesondere die Pioniere der Fintech-Szene darauf, einen großen Teil des sich anbahnenden neuen Geschäftsvolumens an sich ziehen zu können.
Denn auf einmal stoßen viele zuvor kontroverse Innovationen auch bei den Regulierungsbehörden auf Interesse oder gar wohlwollende Zustimmung - nicht zuletzt die Blockchain, eine Technologie, die die großen Erwartungen, mit denen sie befrachtet ist, bisher nur begrenzt einlösen konnte.

Transparenz für Vertrauen

Die Blockchain- oder Distributed-Ledger-Technologie (DLT) als Instrument der Vertrauensbildung zwischen Handelspartnern ist nichts grundlegend Neues mehr. Doch zu einem Zeitpunkt, wo auch das Bankenwesen händeringend nach Denkanstößen sucht, kommt innovationsfreudigen Akteuren eine Bewegung wie gerufen, für die das Kürzel DeFi steht. Gemeint ist ein auf der Blockchain basierendes dezentrales Finanzwesen ohne (institutionelle) Intermediäre - Decentralized Finance.
Schon jetzt fließen riesige Investitionssummen in kleine, skurrile Start-ups, die das sprichwörtliche Eisen schmieden wollen, solange es heiß ist. Doch auch die großen IT-Kon­zerne entwickeln eigene Blockchain-Technologien. IBM beschäftigt weltweit rund 2000 Mitarbeiter damit. Insgesamt hat das DeFi-Ökosystem 2020 einen enormen Sprung nach vorne gemacht. Laut DeFi Pulse, einem Anbieter von Analytik-Services für die DeFi-Community, ist das in DeFi-Anwendungen investierte Vermögen zwischen Ende Dezember 2019 und Mitte September 2020 um über 1180 Prozent oder 7,964 Milliarden Dollar gestiegen.
Neue Geschäftsmodelle mit disruptivem Potenzial machen von sich reden (siehe Kasten „Beispiele“ auf Seite 47). Fast neun von zehn Finanzinstituten (88 Prozent) fürchten inzwischen um ihr Geschäft, schätzen die Analysten von PwC. Konventionelle Banken könnten ihrem Betriebsmodell nicht die nötige Skalierbarkeit entlocken, da sie viel zu stark von menschlichen Kompetenzen und eingeschliffenen Prozessen abhängig seien. Im Gegensatz dazu, so PwC, setzten die Anbieter von DeFi-Dienstleistungen auf Blockchain-Protokolle wie Aave, Maker oder Synthetix, die ihre Arbeit - automatisch hoch­skalierbar - ohne menschliches Zutun verrichteten.
Patrick Hansen
Patrick Hansen
Bereichsleiter Blockchain beim Bitkom
www.bitkom.org
Foto: Bitkom
„Decentralized Finance hat enormes disruptives Potenzial.“
Der entscheidende Unterschied zum bestehenden Finanzsystem ist die vollständige Transparenz über jede einzelne Transaktion, betont Julian Grigo, Leiter Digital Banking & Financial Services beim Digitalverband Bitkom. Sein Kollege Patrick Hansen, Bitkom-Bereichsleiter Blockchain, beschreibt das Konzept vom DeFi so: „Decentralized Finance ist kein konkretes einzelnes Projekt, sondern der Oberbegriff für eine Vielzahl von Ideen und Projekten, die ein neues dezentrales, transparentes und dadurch vertrauenswürdiges Finanzsystem aufbauen wollen.“ 
Er fordert zugleich eine realistische Einschätzung des gegenwärtigen Reifegrads der DeFi-Technologie, wenn er sagt: „Decentralized Finance hat enormes disruptives Potenzial und wächst gerade rasant, steckt aber insgesamt noch in den Kinderschuhen - für eine Reihe von technischen, wirtschaftlichen und regulatorischen Fragen müssen noch passende Antworten gefunden werden.“ Um eine breite und sachliche Debatte zu ermöglichen, hat Bitkom kürzlich das Infopapier „Decentralized Finance - A new Fintech Revolution?“ veröffentlicht.
Der weltweite Konjunktureinbruch scheint die DeFi-Szene jedenfalls bislang nicht zu bremsen, sondern eher zu beflügeln. Das globale Handelsvolumen an DeFi-Marktplätzen (Decentralized Exchanges, DEX) bricht seit Beginn der Corona-Krise alle Rekorde. Im Juli 2020 stieg der Umsatz auf 4,3 Milliarden Dollar, ein Zuwachs um mehr als das Zwölffache gegenüber dem Vergleichsmonat des Vorjahres. 
Das Vermögen im DeFi-Markt - gemessen am Wert der Kryptowährung Ethereum (ETH) und der zugehörigen ERC-20-Token - erreichte laut Alethio Analytics im ersten Quartal 2020 einen Gesamtwert von 1 Milliarde Dollar. Zum Hintergrund: DeFi-Anwendungen erfordern üblicherweise das Hinterlegen einer Sicherheit in Form von Krypto-Token der jeweiligen DeFi-Plattform; ein wachsendes Handelsvolumen bestätigt daher generell steigendes Interesse an DeFi-Lösungen. Auch der explodierende Web-Traffic führender DeFi-Projekte scheint diesen Zusammenhang zu bestätigen.
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