Bald geht’s los mit Industrie 4.0

Cyber-Physical Systems

von - 01.02.2017
Die Fertigung individueller Unikate (Losgröße 1) steckt noch in den Anfängen. Dabei sieht Anderegg gerade für kleine und mittlere (Schweizer) Firmen großes Potenzial, weil dort noch viel von Hand gefertigt werde. Pionierarbeit in Sachen Losgröße 1 hat zum Beispiel die Schweizer Firma KWC geleistet, die individuelle Armaturen und Wasserhähne für Küche und Bad produzieren kann. Zum Einsatz kommen sogenannte Cyber-Physical Systems, die mit Sensorik, Aktorik, Kommunikationsmöglichkeiten und programmierbaren Minicomputern (embedded systems) ausgestattet sind. Wichtig seien sehr gute Modelle, um Cyber-Physical Systems mit möglichst wenig Handarbeit und möglichst schnell auf die Fabrikation eines neuen Unikats konfigurieren zu können. Sonst rechne sich die Losgröße 1 nicht.
Gert Brettlecker
Ergon Informatikwww.ergon.ch
„Maschinenhersteller müssen sich in Zukunft überlegen, wie sie selbst mit Dienstleistungen Geld verdienen können.“
Nils Herzberg, Senior VP bei SAP und für den Bereich IoT verantwortlich, unterscheidet acht Klassen, in denen Industrie-4.0-Technologien wichtig sind oder in Kürze wichtig werden: smarte Fa­brik, Lagerautomatisierung, Industriegüter, Fahrzeuge/Lastwagen/Baumaschinen, alltägliche Dinge (etwa Wearables oder Fitness-Tracker), Retail-/Konferenzflächen/Messehallen, Gesundheit und die vernetzte Smart City.
Bei Industrie 4.0 gehe es im Kern um die Automatisierung und Verbesserung von Arbeiten, die für den Menschen zu teuer oder mit hohem Aufwand verbunden sind. Dabei kämen neue, datengetriebene Geschäftsmodelle zum Einsatz. „Die Industrie bewegt sich Richtung 4.0“, sagt Herzberg. Etwa 20 Prozent seien auf einem guten Weg, 20 Prozent zweifeln noch und halten Industrie 4.0 für neumodischen Kinderkram, der Rest beginnt, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Quer über alle Branchen hinweg rechnen sich Unternehmen eine Kostenreduktion von 3,2 bis 4,2 Prozent pro Jahr aus, hat die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers bei einer Befragung von 2000 Firmen weltweit festgestellt.
„Im Allgemeinen ist die Schweiz vorsichtiger und lang­samer als andere Länder, mit einigen Ausnahmen wie Herstellung/Fabrikation”, sagt Marcel Truempy, Business Developer bei SAP Schweiz. So könnten zum Beispiel bereits während der Fabrikation eines Bauteils Abweichungen erkannt und ausgeglichen werden. Der Qualitäts-Check findet also nicht, wie früher, am Ende, sondern kontinuierlich während der Fertigung statt. Das Hochpreisland Schweiz mit seinem sehr hohen Qualitätsanspruch sei prädestiniert für den Einsatz solcher Technologien und Truempy sieht kleinere Firmen gegenüber den großen sogar im Vorteil, da sie agiler seien. Als Vorteile winken eine höhere Qualität, bessere Performance, niedrigere Kosten und zufriedenere Kunden. Manchmal, so Truempy, sei Industrie 4.0 auch einfach eine Frage des Überlebens. Der Luxusmotorradhersteller Harley Davidson etwa wäre schon längst tot, hätte er seine Fabrikation nicht digitalisiert. Heute produziert der Hersteller extrem flexibel: Kunden reichen morgens ihre Wünsche ein und können nachmittags bereits das fertige Bike in Empfang nehmen.

Vom Produkt zum Service

Für Jürgen Eberhardt von IBM Schweiz ist Industrie 4.0 nicht nur eine Technologiediskussion, sondern zieht einen Kulturwandel in den Unternehmen nach sich. Das ist zwar ein oft zitiertes Statement, aber dieses Mal scheint es zu stimmen. Firmen bewegen sich weg von der Fabrikation eines Produkts hin zu einem Service-Modell.
Hardware wird immer mehr zur Commodity. Die Differenzierung erfolgt über zusätzlichen Service und beim Kunden generierten Mehrwert. Turbinenhersteller vermieten ihre Triebwerke nach Betriebsstunden, also nach Verbrauch. Der Kompressorenhersteller Kaeser verkauft in Zukunft nicht mehr Kompressoren, sondern komprimierte Luft.
Der internationale Baustoffkonzern Lafarge-Holcim, seit der Fusion mit Sitz in der Schweiz, hat sich in einem Pilotprojekt zusammen mit IBM das Ziel gesetzt, die Energieeffizienz bei der Zementherstellung um 10 Prozent zu steigern, und einen sogenannten Mill Advisor für Zementmühlen zu entwickeln. Die Energiekosten machen bei der Zementherstellung immerhin den Löwenanteil, etwa 80 Prozent, aus. Dafür wurden 18 Monate lang über den Produktionsprozess Daten erfasst und gespeichert. Hinzu kommen Informationen zum Benutzerverhalten der menschlichen Zementmischer oder Wetterdaten, die den Trocknungsprozess beeinflussen. Das Pilotprojekt ist noch im Gang.
„Schweizer Firmen beschäftigen sich mit Industrie-4.0-Technologien, aber wir stehen noch am Anfang“, resümiert Jürgen Eberhardt. Viele Firmen seien dabei, Pilotprojekte zu starten oder einen Proof of Concept zu entwickeln, aber eine globale Ausrollung sehe man zurzeit noch selten, sagt Eberhardt und zieht das Fazit: Die Technologie – die Cloud, IoT-Plattformen, Analy­tics – sei da. Nun müsse sie nur noch richtig
eingesetzt werden, um neue Geschäftsmodelle zu kreieren.
Industrie 4.0: höhere Erträge, weniger Kosten
Die zentralen Vorteile von Industrie 4.0 nach PricewaterhouseCoopers im Detail:
Geringere Kosten & mehr Effizienz durch:
  • Echtzeitqualitätskontrolle auf Basis von Big Data Analytics
  • modulare, flexible und auf die Kunden maßgeschneiderte Produktionskonzepte
  • Echtzeitsicht auf Prozess-/Produktabweichungen, Augmented Reality und Optimierungen durch Datenanalyse
  • Predictive Maintenance zur Optimierung von Wartung und Reparatur sowie zur Laufzeitverlängerung von Maschinen
  • vertikale Integration (Sensoren, MES, Echtzeitproduktions­planung) zur besseren Ausnutzung von Maschinen/schnelleren Durchlaufzeiten
  • horizontale Integration und Produkt-Tracking zur Reduzierung des Logistikaufwands
  • Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen zum optimalen Einsatz von Ressourcen und Personal
  • systembasierte, Echtzeit-End-to-End-Planung, horizontale Collaboration über Cloud-Plattformen
  • Skalierung, höherer Marktanteil
Zusätzliche Erträge durch:
  • Digitalisierung von Produkten und Services im bestehenden Portfolio
  • neue digitale Produkte, Services und Lösungen
  • Big Data und Analytics als Service-Angebot
  • personalisierte Produkte und individualisierte Massenanfertigung
  • margenträchtigere Geschäfte dank verbesserter Sicht auf die Kunden mit Hilfe von Data Analytics
  • wachsende Marktanteile bei Kernprodukten
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