Digitale Transformation

„Sich nicht zu verändern, ist der sichere Tod“

von - 09.05.2022
Foto: Signavio
Seit 2021 gehört das Start-up Signavio zu SAP. Gründer Gero Decker über Prozessmanagement und die Transformation von Unternehmen.
Gero Decker hat als Gründer und CEO den Business-Prozess-Spezialisten Signavio groß gemacht und so interessant, dass er vergangenes Jahr von niemand Geringerem als SAP aufgekauft worden ist. Im Interview mit com! professional schildert er seine Sicht auf die digitale Transformation und die Start-up-Kultur in Deutschland.
com! professional: Der Name Signavio leitet sich vom italienischen Segnavia für Wegweiser ab. Was eigentlich genau macht Signavio?
Gero Decker: In Kurzform sind wir ein Software-Unternehmen, das anderen Unternehmen dabei hilft, betriebliche Abläufe und Prozesse zu verstehen und zu verbessern und diese Veränderungen in die Organisationen zu tragen. Wie ist das entstanden? Ich bin mit dem Thema Prozess­management zum ersten Mal in Berührung gekommen, als ich als Berater bei der Deutschen Telekom gearbeitet habe. Damals ging es um die Markteinführung von Entertain, des ersten Triple-Play-Produkts in Deutschland. Das war sehr spannend, weil es unglaublich viel Komplexität mit sich bringt. Wenn eine Bestellung für DSL oder für Entertain reinkommt, dann sind Dutzende von Abteilungen involviert und zum Teil mehr als hundert IT-Systeme, über die so ein Prozess fließt.
Das hat mich damals sehr fasziniert, ich bin von Hause aus Ingenieur. Es ging nicht nur darum, rein technische Systeme zu verstehen und zu bauen, sondern eine ganze Organisation zu verstehen: Was muss wann wie funktionieren? Was passiert, wenn der Kunde auf der halben Strecke nicht mehr 25 MBit haben will, sondern 50 MBit? Muss dann alles wieder zurückgerollt werden? Was müssen die beteiligten Personen können, was kann ich automatisieren? All diese Fragen stellen sich, wenn ich mir die Abläufe und Prozesse in einem Unternehmen anschaue.
com! professional: Und wie kam es zur Gründung von Signavio?
Decker: Unsere Beobachtung war, dass Prozessmanagement immer dann gut funktioniert, wenn viele Leute zusammenarbeiten können. Wenn eine Person den perfekten Prozess aufmalt und alle anderen sich daran halten müssen, dann geht das meistens schief. Wenn Sie es aber schaffen, einen Bottom-up-Prozess oder Crowdsourcing à la Wikipedia hinzubekommen – jeder trägt das bei, was er weiß –, dann kommen Sie meistens bei sehr guten Lösungen raus, kommen viel schneller ans Ziel und können viel schneller Veränderungen im Unternehmen umsetzen. Das war der Startpunkt, als wir vor zwölf Jahren losgelegt haben.
Die Zentrale von Signavio befindet sich in Berlin.
(Quelle: Signavio)
com! professional: Das Thema Business Process Management (BMP) ist ja nicht neu. Warum rückt es gerade jetzt zunehmend in den Fokus?
Decker: Weil sich die Dinge heute viel schneller ändern in den Unternehmen als früher. Vor zehn Jahren hat man noch gesagt, wir machen jetzt mal ein Veränderungsprojekt, das dauerte dann drei Jahre und dann war es auch wieder gut. Heutzutage, wenn wir uns Corona als Beispiel ansehen, muss ich binnen Tagen oder Wochen ganz massive Änderungen im Unternehmen vornehmen. Ich brauche die Fähigkeit, mit dieser enormen Veränderungsgeschwindigkeit umzugehen.
Daneben gibt es noch spezifische Dinge, bei denen Prozesse sehr hilfreich sind. Zum Beispiel, wenn Sie Technologie einsetzen möchten oder Dinge automatisieren wollen, die zuvor Menschen ausgeführt haben. Dabei müssen Sie viel besser verstehen, was wann passieren muss und wie sich Abläufe vereinfachen lassen. Sie können nicht jede Ausnahme implementieren. Dann kommt das Thema Prozesse zwangsläufig ganz oben auf der Agenda an.
com! professional: Welche Innovationen und Alleinstellungsmerkmale in Sachen BPM bietet Signavio im Vergleich zu anderen?
Decker: Das hat sich im Lauf der Zeit gewandelt. Als wir gestartet sind, waren wir die Ersten und Einzigen, die sich um Collaboration gekümmert haben, und auch die Einzigen, die Prozessmanagement-Software als Cloud-Service angeboten haben. Das ist inzwischen Standard. Wir haben uns natürlich weiterentwickelt und bieten nun die breiteste Prozessmanagement-Suite, die es am Markt gibt – von der Analyse über Veränderungssimulationen und Zielbilder bis hin zu Veränderungen in den diversen Systemen.
Smarte Tools helfen, die Kundenerfahrung in den Mittelpunkt des Prozessmanagements zu stellen.
(Quelle: Signavio)
Das andere, was uns besonders ausmacht: Wir gehörten zu den Ersten, die erkannt haben, dass sich Prozessmanagement wandelt. Ursprünglich ging es darum, einen gegebenen Prozess zu nehmen und zu versuchen, ihn schneller, besser und günstiger zu machen. Heute startet man mit der Customer Experience. Es geht um die gewünschten Erfahrungen, die man für die Kunden gene­rieren möchte. Dann arbeitet man „rückwärts“, um zu schauen, welche Prozesse fehlen oder welche Abläufe, die vielleicht intern supereffizient sind, aus Sicht des Kunden nicht funktionieren. Das nennen wir Customer Excellence.
com! professional: Wie sehen die Software-Lösungen von Signavio im Einzelnen aus?
Decker: Es geht immer los mit der Analyse: Wie arbeite ich heute? Das erfolgt idealerweise datengestützt. Wir haben ein Produkt, das nennt sich Process Insights, damit lässt sich ein Katalog mit Hunderten von KPIs relativ schnell durchleuchten. Das vermittelt einen Eindruck, wo Sie gut sind, wo Sie schlecht sind und wo Sie insgesamt stehen.
Dann geht es weiter mit Process Mining. Dabei geht es um die Prozesse, bei denen Sie besonders viel Potenzial vermuten. Es folgt datengestützt eine Art Reverse Engineering. Sie rechnen zurück, wie der Prozess läuft, wo Flaschenhälse und Engpässe bestehen, wo ungewöhnliche Muster auftreten und wo möglicherweise sogar Compliance-Verstöße in Ihren Prozessen vorliegen. Dann kommt die Modellierung im Sinn von: „Wie wollen wir morgen arbeiten? Wir haben verstanden, wie heute die Dinge laufen, aber was soll sich morgen verändern?“
Der nächste Schritt ist die Simulation. Ich möchte den Impact im Vorhinein ermitteln können. Wird das günstiger? Bekommt der Kunde Antworten jetzt schneller? Anschließend geht es darum, das Wissen im Unternehmen zu teilen – das nennt sich Collaboration Hub. Am Ende der Kette steht das Rekonfigurieren von Systemen wie SAP-Applikationen oder Workflow-Anwendungen. Für diese Kette haben wir alle Tools, die man als Prozess-Interessierter benötigt – von der Analyse über Verbesserungen im Sinn von Sollbild-Definitionen bis hin zur tatsächlichen Umsetzung im Unternehmen und in den IT-Systemen.
com! professional: Ist das eine große Suite mit diversen Modulen oder sind das einzelne Programme?
Decker: Das ist eine Suite, in der ich die Ergebnisse aus der einen Phase oder Aktivität nahtlos verwenden kann für die weiteren Aktivitäten. Ein Beispiel: Ich mache Process Mining und Analysen, wie mein Prozess aktuell läuft. Wenn ich danach in die Modellierung gehe, dann nehme ich das Ergebnis als Startpunkt und gebe vor, welche Aktivitäten anders laufen oder welche Entscheidungskriterien umdefiniert werden sollen. Das greift nahtlos ineinander.
com! professional: Wo fängt man mit Geschäftsprozessmanagement an, welche Schritte sind notwendig?
Decker: Die Tools sind meist nicht das Problem, sondern die Frage, wie veränderungsbereit ich als Unternehmen bin. Mit Tools erhalten Sie eine Transparenz, eine Sichtbarkeit auf Dinge, die Sie vorher nicht hatten. Das kann sehr wehtun, weil Sie Dinge sehen, die schlecht laufen und auf die man zuvor nur mit einem halben Auge geschaut hat.
Aber: Sie betreiben ja nicht den ganzen Aufwand, um alles wie gehabt fortzuführen, sondern um die Dinge zu verändern. Wir zeigen unseren Kunden einen Erfolgskatalog mit verschiedenen Kriterien, die für ein erfolgreiches Prozessmanagement notwendig sind, und nur eines davon ist, die richtige Technologie einzusetzen. Die anderen sind organisatorische, kulturelle Fragestellungen, die im Unternehmen angegangen werden müssen. Sonst haben Sie vielleicht ein tolles Dashboard, aber dahinter verändert sich nichts. Dann haben wir nichts gewonnen und der Kunde schon gar nicht.
com! professional: Das heißt, die Unternehmenskultur spielt eine entscheidende Rolle?
Decker: Die Kunden können sich natürlich auch dafür entscheiden, nichts zu tun, sich nicht zu verändern, aber das ist leider der sichere Tod. Insofern gibt es einen ganz starken Bedarf, sich weiterentwickeln zu wollen. Wir zeigen Unternehmen, wie ähnliche Unternehmen vorgegangen sind, was die ersten Schritte waren, wie man mit internen Widerständen umgeht. Wir sehen uns nicht nur als Technologielieferant, sondern auch als Hirte einer Community von Unternehmen, die auf dem Weg sind, Prozessmanagement erfolgreich einzuführen.
Die Illustration an der Wand steht für die Standorte USA, Berlin und Singapur.
(Quelle: Signavio)
com! professional: Welchen Nutzen ziehen Unternehmen aus Business Process Management?
Decker: Das kommt ganz auf den Kunden an. Wir sehen ungefähr 30 Prozent der Projekte, die mit dem Fokus auf das Kundenerlebnis ins Rennen gehen. Es gibt auch Projekte, die vor allem auf Kosten und Effizienz ausgerichtet sind. Automatisierung erfolgt oftmals zunächst mit einem Effizienzfokus. Später geht es dann darum, wie man mit den Kunden besser interagieren, schnelleres Feedback liefern kann. Der Trend geht klar in Richtung Kundenerlebnis.
com! professional: Wie geht es für Signavio unter dem Dach von SAP weiter, wie fühlt sich das für Sie als Gründer an?
Decker: Es fühlt sich super an. Viele Leute sagen, Gero, deine Welt muss jetzt ganz schrecklich sein, du bist aus einer Start-up-Welt gekommen und in einer Konzernwelt gelandet. Aber ganz im Gegenteil: Bei SAP haben wir tatsächlich mehr Freiheitsgrade als wir vorher hatten, als unabhängiges Unternehmen. Dort haben wir Finanzinvestoren gehabt, mit denen wir Dinge absprechen mussten. Der Zeithorizont hat sich bei SAP dramatisch gewandelt. Dort fragt man nicht, wo die Firma in zwei oder drei Jahren sein kann, sondern wo die Einheit in fünf oder zehn Jahren steht und welchen Einfluss sie auf SAP als Gesamtunternehmen haben könnte. Wenn es um Investitionen geht, schreitet man viel langfristiger, aber auch viel mutiger voran. Anfang vergangenen Jahres waren wir 450 Kollegen, jetzt sind wir über 800. Das zeigt, dass viel Wumms hinter dem Thema steckt.
com! professional: Wie positioniert sich Signavio im SAP-Universum?
Decker: Wir sind nicht nur ein Produkt unter vielen, das einfach danebengestellt wird. Stattdessen sind wir eine äußerst synergistische Akquisition, weil wir den Bereich Business-Transformation unterstützen, die jede größere Veränderung mit sich bringt. Angenommen, Sie gehen den Weg der neuen ERP-Generation S/4HANA in die Cloud mit. Das ist ja nicht nur ein Austausch „altes System gegen neues System“. Es geht meistens einher mit der Fragestellung „Wie wollen wir morgen arbeiten und wie soll unser Unternehmen morgen aussehen?“ Und: „Wenn wir diesen großen Schritt machen, dann wollen wir uns auch vorbereiten auf die zukünftige Welt.“
Bei all diesen Themen passen wir perfekt rein und können den Dialog, den SAP mit Kunden führt, ganz anders angehen. Weg von „Hier ist ein besonders tolles Software-Paket, lassen Sie uns über die fünf Konfigurationspunkte reden“ hin zu „Wie will Ihr Unternehmen morgen arbeiten und wie sollen die Abläufe aussehen?“.
com! professional: Wie passt Process Mining da rein? Dafür gibt es ja in Deutschland mit Celonis ein anderes erfolgreiches Unternehmen. Was sind die Unterschiede?
Decker: Im Kern bedeutet Process Mining, Daten aus transaktionalen Systemen zu nehmen und diese Prozesse zurückzurechnen und zu analysieren. Wir sind wesentlich breiter aufgestellt, da wir nicht nur diese eine Art unterstützen, einen Prozess zu analysieren. Auch will ich mich nicht damit begnügen, nur den aktuellen Zustand zu kennen, sondern ich will mich auch darüber unterhalten, was denn die Dinge sind, die wir verändern wollen, und welche Prozesse wir dazu neu einführen müssen. Dafür reicht reines Process Mining leider nicht aus, sondern es bedarf einer breiteren Transformations-Suite.
„Wir sind das P in RPA.“
com! professional: Wo ist BPM im Zusammenhang mit RPA, Robotic Process Automation, anzusiedeln?
Decker: Das geht Hand in Hand. RPA ist eine von mehreren Automatisierungstechnologien. Wir verstehen uns als Automations-Radar. Damit können Sie in das Unternehmen reingehen und herausfinden, wo Automatisierungsmöglichkeiten in den Prozessen versteckt sind. Im zweiten Schritt wählen Sie die Prozesse aus, die Sie tatsächlich angehen wollen. Drittens sollten Sie den Prozess vereinfachen und optimieren, bevor Sie Automatisierung drauf loslassen. Sonst haben Sie den gleichen schlechten Prozess, aber automatisiert.
Wenn ein Bot anfängt, Aufgaben zu übernehmen, dann stellt sich immer auch die Frage nach den Auswirkungen auf den Gesamtprozess. Es nützt nichts, eine Aufgabe schneller erledigen zu lassen, wenn hinten 60 Prozent mehr Eskalationen auftreten. Das ist genau das Thema Ende-zu-Ende-Prozesse, um das wir uns kümmern. Als das RPA-Thema aufkam, haben wir gesagt: „Wir sind das P in RPA.“
Ich kenne das Team des RPA-Spezialisten UiPath aus Zeiten, als sie 10 oder 15 Mitarbeiter hatten. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass man mit einem Scripting-Tool in den Unternehmen so viel Impact haben kann. Als Ingenieur bin ich an technischen Lösungen interessiert und nicht am Recording von irgendwelchen User-Klick-Aktionen. Aber es hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Für uns ist das eine angrenzende Technologie, die sehr spannend ist. SAP hat ebenfalls eine starke RPA-Komponente. Da sind wir häufig mit von der Partie.
com! professional: Warum kommt das Themen Gründen eigentlich in Deutschland nicht so richtig voran?
Decker: Ich kann nur für den Software-Bereich sprechen. Da muss ich sagen, dass sich die Welt dramatisch verbessert hat in den vergangenen fünf bis sieben Jahren. Als wir 2009 gestartet sind, fühlte man sich wie in einer Selbsthilfegruppe, wenn man mit anderen Gründern zusammenkam. Endlich mal jemanden treffen, der genauso verrückt war wie man selbst und genauso wenig Ahnung hatte. Inzwischen gibt es eine gute Infrastruktur – auch in Deutschland – in Bezug auf Geld, aber auch in Bezug auf Hilfe und Wissen. Was das Silicon Valley uns voraus hat, sind die mehreren Generationen an Gründungen. Mitarbeiter aus erfolgreichen Gründungen gründen selbst. Erfolgreiche Gründer machen das wieder und wieder. Dadurch entsteht ein Ökosystem, in dem viel Inspiration herrscht. Man sieht Menschen, die es schaffen, und möchte das auch – sie sind Vorbilder. Zudem gibt es konkrete Hilfestellungen. Man muss sich nicht bei jedem Problem selbst ausdenken, wie man das jetzt löst.
„Wenn ich schlau bin und Hummeln im Hintern habe, dann gründe ich einfach.“
In Deutschland gibt es an vielen Stellen noch Verbesserungsbedarf. Ein Indiz sind die Universitäten. Da ist es immer noch attraktiv, nach dem Studium einen Doktor zu machen. Wo man viel mehr lernt und was viel spannender ist, ist, eine Firma zu gründen. Selbst wenn die scheitert, macht das nichts. Fürs Leben nimmt man viel mehr mit. Hier sind die Wertvorstellungen in Deutschland anders als in Amerika. Dort ist klar: Wenn ich schlau bin und Hummeln im Hintern habe, dann gründe ich einfach.
com! professional: Wird das Scheitern in Deutschland zu sehr als Versagen wahrgenommen?
Decker: In den USA ist man es gewohnt, dass sich die Welt immer schneller dreht. Als wir 2012 unsere US-Tochtergesellschaft gegründet haben, war ich in einem Co-Working-Space, der nannte sich Plug and Play Tech Center. Da waren zu jedem Zeitpunkt 250 Technologiefirmen unter einem Dach. Drei Monate später gab es die Hälfte dieser Firmen nicht mehr. Das war völlig normal und wurde akzeptiert. Wenn man Leute nach sechs Monaten wiedergesehen hat, war immer die erste Frage: „Arbeitest du noch bei derselben Firma oder hast du schon die nächste gegründet?“ Hierzulande hängen die Leute jahrelang einer Idee nach, die offensichtlich nicht funktioniert. Der Amerikaner wäre schon lange abgesprungen und hätte neu angefangen.
com! professional: Letztendlich ist nur ein deutsches Start­up zu einer Weltmarke geworden, nämlich SAP. Warum?
Decker: Ich bin optimistisch. Es gibt sehr viele sehr gute Firmen, die in den vergangenen Jahren entstanden sind. Der DAX im Jahr 2030 wird viele spannende Software-Unternehmen sehen, die in Deutschland entstanden sind. Da bin ich mir sicher.
com! professional: Sie haben am Hasso-Plattner-In­stitut (HPI) studiert. Wie kann man sich das HPI vorstellen?
Decker: Man kann sich das vorstellen als eine Insel der Glückseligkeit. Dort kommen sehr viele schlaue und motivierte Leute zusammen. Das HPI hat es geschafft, sich einen guten Ruf aufzubauen. Das erzeugt eine unglaubliche Dynamik. Davon zehrt man sehr lange. Wenn ich mir heute anschaue, was aus meinen Studienkollegen geworden ist – einer sitzt jetzt als CTO bei SAP.
Die Relation zwischen Geld – das aus der Stiftung kommt – und Anzahl der Studenten ist am HPI so günstig wie in keiner anderen Institution. Das äußert sich auch in den Betreuungsquoten. Auch die vielen Partnerschaften sind hilfreich. Das HPI sieht sich auf einem Level mit dem MIT und Stanford, da gibt es sogar gemeinsame Kurse. Das motiviert und befördert ein globales Mindset.
Viele Bereiche sind eingebettet in die Universität Potsdam. Man geht in dieselbe Mensa wie BWLer und Juristen. Aber die Lehrveranstaltungen werden vom HPI für HPI-Studenten organisiert. Zumindest war das zu meiner Zeit so. Dort herrscht ein ganz besonderer Spirit.
com! professional: Wo hat Deutschland die stärksten Defizite in Sachen digitale Transformation und woran liegt das? Und: Hat Corona hier wirklich einen Schub bewirkt?
Decker: Wir könnten sehr viel mehr machen. Ich würde mir wünschen, dass die Verwaltung einen großen Schritt nach vorne geht. Wenn ich mir anschaue, wie heutzutage positive Corona-Fälle vom Gesundheitsamt nachverfolgt werden, und das mit Ländern wie Großbritannien vergleiche. Dort ist das alles durchdigitalisiert. Da entsteht dann auch kein Volumenproblem, weil 90 Prozent von Software abgehandelt wird. In Deutschland ist man noch mit Stift und Papier unterwegs.
Auch in den Schulen würde man denken, nach dem zweiten oder dritten Lockdown hat man verstanden, wie das alles funktioniert. Der große Fortschritt ist jetzt, dass die Lehrer eine Schul-E-Mail-Adresse haben. Ist der Unterricht digitaler geworden? Not really.
com! professional: Wie geht ein Software-Unternehmen wie Signavio mit dem in der Branche herrschenden anhaltenden Fachkräftemangel um?
Decker: Das ist eine große Herausforderung für die gesamte Branche. Uns geht es noch überdurchschnittlich gut. Uns hilft dabei, dass SAP ein populärer Arbeitgeber ist. Früher haben wir alle Kollegen in Berlin gesucht und eingestellt. Heute haben wir die Flexibilität, dass wir remote arbeiten können und es egal geworden ist, wo man arbeitet.
Wir sagen immer, wir haben intern drei Hauptprozesse: ein gutes Produkt bauen, sicherstellen, dass es beim Kunden ankommt, und Mitarbeiter einstellen. Das Thema Fachkräfte anwerben außerhalb der EU ist eine große Baustelle. Innerhalb der EU klappt es sehr gut, aber alles außerhalb der EU ist kompliziert und langsam.
com! professional: Welche BPM-Trends erwarten Sie für das Jahr 2022?
Decker: Prozessmanagement wird Teil jedes Transformationsvorhabens. Transformation muss prozessorientiert erfolgen, das hat man heute verstanden. Der Stellenwert von Prozessmanagement steigt in den Unternehmen immer weiter. Bestes Beispiel: Unser CEO Christian Klein war früher Head of Process Management bei SAP. Eine seiner Aufgaben bestand darin, das Unternehmen operativ umzustellen von einem On-Premise-Software-Anbieter zu einem Cloud-Anbieter. Das hat intern enorme Transformationen nach sich gezogen. Prozessmanagement ist ganz vorne mit dabei bei der Gestaltung des zukünftigen Unternehmens.
Zur Person und Firma
Gero Decker ist als Mitbegründer und CEO von Signavio für die über­greifende strategische Ausrichtung verantwortlich. Bevor er Signavio gründete, war er unter anderem für SAP und McKinsey tätig. Gero Decker studierte am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam und erwarb dort seinen Doktortitel in Busi­ness Process Management.
Signavio bietet cloudbasierte Software für die Visualisierung, das Management und die Opti­mierung von Geschäftsprozessen an.
  • Gegründet: 2009
  • Hauptsitz: Berlin
  • Mutterkonzern: SAP, Übernahme 2021
  • Kaufpreis: 1 Milliarde Euro
  • Mitarbeiter: >800
  • Umsatz: rund 30 Mio. Euro im Jahr 2019
  • www.signavio.com/de
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