Große Erwartungen an HR & Recruiting

Work-Life-Balance

von - 10.10.2022

Zufriedenheit senkt die Fluktuationsrate

Die Mitarbeiterfluktuation war schon immer ein wichtiges Kapitel im dicken Buch der Unternehmenssorgen.Schließlich geht dadurch oft auch wertvolles Know-how verloren. Doch hat es sich in letzter Zeit noch einmal verschärft. Im Zuge der Pandemie haben sich die Einstellungen vieler Angestellten gewandelt. Wer unzufrieden im Homeoffice war, bei dem ist oft die Sehnsucht nach einer neuen beruflichen Herausforderung gewachsen.
Laut statistischem Bundesamt lag die Fluktuationsrate im Jahr 2021 bei 29,8 Prozent. Zugrunde liegt die Gleichung Fluktuationsquote = (Abgänge: durchschnittlicher Personalbestand) x 100 %. Für Christian Diestelkamp ist die wichtigste Aufgabe deshalb das Zuhören, um Sorgen und Wünsche wahrzunehmen. „Ziel muss es sein, eine starke und breite Kontaktfläche zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu erhalten, damit sich jede einzelne Person als das fühlen kann, was sie ist: höchst relevant.“
Was kann HR also tun? Wieland Volkert nennt einige grundsätzliche Stellschrauben: „HR muss sich zunächst als strategische Abteilung verstehen, die als Bindeglied zwischen Unternehmensführung und Belegschaft fungiert. HR ist das Kulturzentrum eines Unternehmens. Anders wird HR ihre Aufgabe nicht mehr richtig ausfüllen können. In dieser Eigenschaft gestaltet HR die Employee Experience, also die Erfahrungen und Erlebnisse, die ein Mitarbeiter mit seinem Unternehmen täglich erlebt, vom Eintritt bis zum Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis.“
Kristina Gerwert
Leiterin Human Resources bei Adesso
Foto: Adesso
„Themen wie das Gehaltsniveau und Arbeitszeitenregelungen sind Hygienefaktoren, die stimmen müssen, aber nicht mehr entscheidend sind für die Bindung von Fachkräften.“
Zunehmende Bedeutung für die Erwartungen von Beschäftigten und Bewerbern gewinnt auch das Thema ethische Führung. Wenn sich Mitarbeitende nicht gleichbehandelt fühlen, zum Beispiel beim Gehalt, oder wenn sie das Gefühl haben, dass die Führung ihnen gleichgültig gegenübersteht, kann das schnell zu Kündigungen führen. Der Arbeitsmarkt war schließlich selten so aufnahmefreudig wie heute.
„Auf operativer Ebene hat die HR ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten, die Stimmung in der Belegschaft zu ergründen“, führt Volkert weiter aus. Dazu gehöre eine richtig eingesetzte Mitarbeiterbefragung, die als Frühwarnsystem mögliche Unzufriedenheiten frühzeitig aufdecken könne. „Ganz wichtig dabei ist, dass das Feedback der Mitarbeitenden auch zu Änderungen führt. Bekommen die Angestellten den Eindruck, dass ihre Kritik oder Verbesserungsvorschläge nicht ernst genommen werden, dann sind solche Maßnahmen kontraproduktiv.“
„Themen wie Gehaltsniveau und Arbeitszeitenregelungen sind Hygienefaktoren, die stimmen müssen, aber nicht mehr entscheidend sind für die Bindung von Fachkräften“, findet Kristina Gerwert. Anderes sei wichtiger geworden: „Ehemals weiche Faktoren wie Work-Life-Balance oder Freiraum für Fortbildungen sind heute handfeste Argumente im Wettbewerb um kluge Köpfe. Hinzu kommen die Themen Nachhaltigkeit und Purpose. Sowohl ökologisches Wirtschaften als auch ein positiver Sinn der Arbeit helfen dabei, Talente zu gewinnen und Fachkräfte zu halten.“

Hybride Arbeit aus HR-Sicht

Auch die Entwicklung flexibler Arbeitszeitmodelle fordert Personalverantwortliche zunehmend, zunächst wegen ganz praktischer Probleme: Wie koordiniert man die Platzbelegung bei einer geschrumpften Bürogröße? Wie schafft man den regelmäßigen Austausch innerhalb eines Teams und zwischen Mitarbeitern und Unternehmen, wenn die Mitarbeiter über längere Zeit nicht im Büro vor Ort sind, und wie muss die IT-Ausstattung im Homeoffice aussehen?
Noch wichtiger ist in den Augen von Kristina Gerwert aber ein ganz anderer Faktor: „Hybrides Arbeiten erfordert vor allem eines – Vertrauen. Dazu ist elementar wichtig, als Unternehmen integrativ zu wirken, ein sehr gutes Wissensmanagement zu etablieren und klare Absprachen zu treffen, auf die sich alle Beteiligten verlassen können.“
Christian Diestelkamp sieht noch ein weiteres Problem: „Das persönliche Zusammentreffen – ein wichtiger Kitt in der Mitarbeiterbindung – findet nicht mehr automatisch zufällig auf dem Gang statt, sondern muss aktiv herbeigeführt werden, ohne dass sich ein Gefühl von Zwang einstellt.“
Speziell durch die bei Remote-Arbeit übliche direkte Aneinander-Planung von Terminen ohne Pause träten schnell Überlastungssituationen auf. Zusammen mit der Nichterreichbarkeit von Personalverantwortlichen könne schnell ein Gefühl der Hilflosigkeit und eine Entfremdung vom Unternehmen entstehen.

People-Management und People Analytics

Die persönliche Entwicklung und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden ist in den Mittelpunkt gerückt. Gegebenes lediglich zu verwalten, ist nicht mehr zeitgemäß. Eine Steigerung der Produktivität ist mit unzufriedenen Mitarbeitern unmöglich. Neben People Management begegnet man dabei immer wieder auch dem Begriff People Analytics. Die Personalverantwortlichen lernen allmählich, datenbasiert zu arbeiten.
„Ein modernes People-Management basiert auf mehreren Säulen“, erklärt Wieland Volkert. „Zunächst muss HR sich mehr denn je um die Kultur des Unternehmens kümmern. Die große Kunst: HR muss die Kultur des Unternehmens in Prozesse, Dokumente und Informationsangebote übersetzen.“  Big Data und Analytics sollen dabei den HR-Abteilungen helfen, ein besseres Bild davon zu bekommen, was die Mitarbeitenden bewegt, welchen Informationsbedarf sie haben, wie einzelne Angebote ankommen und wie sich Prozesse verbessern lassen. So würden es Arbeitnehmer zum Beispiel nicht mehr hinnehmen, vier Wochen auf die Genehmigung einen Urlaubsantrags zu warten.
Kristina Gerwert sieht die Thematik positiv: „Richtig analysiert liefert Big Data wertvolle Erkenntnisse für das Recruiting: Wo ist meine Zielgruppe unterwegs, was sind ihre Präferenzen und wie sieht ihr Nutzerverhalten aus? Daten liefern Antworten auf all diese Fragen.“ Im People- Management ermögliche Big Data die Nutzung von Clustern, basierend auf Merkmalen wie Gehalt, Alter, Arbeitszeiten und Weiterbildung. Eine Beobachtung dieser Cluster diene dann als Ausgangspunkt für zielgerichtete Maßnahmen.
Christian Diestelkamp
Senior Consultant und Mitglied der Geschäftsleitung bei Abat
Foto: Abat
„Big Data, People Analytics und Ähnliches haben in der Personalarbeit nichts zu suchen.“

Ausdrücklich anderer Meinung ist hier Christian Diestelkamp. Er fällt ein scharfes Urteil: „Big Data, People Analytics und Ähnliches haben in der Personalarbeit nichts zu suchen. Die persönliche Daten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ein äußerst schützenswertes Gut, das einer Personalabteilung anvertraut ist. Da verbieten sich Algorithmen und KI-Tools explizit.“
Flight Risk – Influencer Analysis
(Quelle: SAP)

Nachhaltige Mitarbeiterbindung

Um Talente, Personal und Fachkräfte zu halten, müssen sich Unternehmen deutlich mehr einfallen lassen als Corporate Benefits und kurzlebige Gehaltserhöhungen. Das Thema Mitarbeiterbindung muss in den HR-Abteilungen eine Top-Priorität einnehmen. „Bei Abat nennen wir das manchmal das GMV-Prinzip: den gesunden Menschenverstand“, berichtet Christian Diestelkamp. Was er damit meint, erläutert er an zwei Beispielen: „Vertrauen: Ich will in einer vertrauensvollen Umgebung arbeiten. Damit sind nicht Appelle nach dem Motto, Wir vertrauen uns jetzt alle gegenseitig‘ gemeint – das wäre nur Theater. Vielmehr geht es darum, dass das Unternehmen den Mitarbeitern Vertrauen entgegenbringt und damit auch auf Kontrollmaßnahmen verzichtet. Dazu kommt ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, etwa indem konsequent konkurrierende persönliche Ziele verhindert oder abgeschafft werden.“
Das zweite Beispiel: Selbstwirksamkeit. „Wir alle wollen Dinge zum Guten bewegen. Dafür brauchen wir Freiraum. Freiraum, um Probleme des Kunden lösen, ohne dass mich sinn- oder nutzlose Regelwerke behindern und einschränken. Freiraum, um neue Ideen ausprobieren und umsetzen zu können. Freiraum, um private mit beruflichen Belangen so gut es geht in Einklang bringen zu können.“
„Wirklich abheben können sich Unternehmen durch ihre Kultur und eine Employee Experience, die die Mitarbeitenden in den Mittelpunkt stellt und deren jeweilige Arbeits- und Lebenssituationen berücksichtigt“, stimmt Wieland Volkert zu. Und auch Adesso-Expertin Kristina Gerwert sieht in der Unternehmenskultur den zentralen Baustein der Mitarbeiterbindung: „Für uns steht die Kultur eines Unternehmens über allem. Sie ist schwer zu fassen – und doch täglich zu spüren. Sie stellt das Fundament des Erfolgs dar. Sie reicht vom Umgang miteinander über die Zusammenarbeit mit Kunden bis hin zu gelebten Werten wie Nachhaltigkeit oder Diversität. All diese Aspekte prägen eine Unternehmenskultur und damit den Wohlfühlfaktor für Mitarbeitende. Eine wertschätzende Kultur bindet, wenn sie wirklich gelebt und auch mal herausgefordert wird.“
Verwandte Themen