Low Code/No Code

Demokratisierung der Entwicklung

Quelle: Foto: Shutterstock/ Peshkova
16.09.2021
Wie Unternehmen mit Low-Code-/No-Code-Plattformen die Prozessautomatisierung durch Laien vorantreiben können.

Software-Entwickler sind gefragt. Die Meta-Jobsuchmaschine Jobrobot listete Ende Mai mehr als 45.000 offene Stellen für Developer auf. Laut der Bundesagentur für Arbeit liegt die Arbeitslosenquote mit 2,2 Prozent nur bei rund einem Drittel des Bundesdurchschnitts. Unternehmen brauchen im Mittel mehr als sechs Monate, um eine Entwicklerstelle zu besetzen. „Professionelle Entwickler sind Mangelware geworden“, berichtet Tino Fliege, Solution Architect bei OutSystems. Einer OutSystems-Studie aus dem vergangenen Jahr zufolge finden es nur 11 Prozent der Umfrageteilnehmer in der DACH-Region „einfach“ oder „sehr einfach“, Entwickler zu finden. Vor allem in Bereichen wie Künstliche Intelligenz, Machine Learning und Cybersecurity tun sich Unternehmen bei der Suche nach entsprechenden Spezialisten schwer (siehe Grafik auf Seite ?).
Der steigende Developer-Bedarf ist kein Wunder in einer Welt in der „jedes Unternehmen zum Software-Unternehmen wird“, wie der US-Informatiker Watts S. Humphrey bereits vor mehreren Jahrzehnten erkannte. „Egal von welchem Unternehmen oder welcher Organisation wir sprechen, überall macht sich der Fachkräftemangel im Bereich Software-Entwicklung zunehmend bemerkbar“, bestätigt Hans de Visser, VP Product Management bei der Siemens­tochter Mendix, diese Entwicklung.
Unternehmen versuchen daher vermehrt, Anwender aus den Fachbereichen als „Citizen Developer“ in die Software-Entwicklung zu integrieren. Unterstützt werden sie dabei von sogenannten Low-Code-/No-Code-Plattformen, die – wie der Name schon andeutet – eine Programmierung mit wenig oder gar keinem Code ermöglichen. Einer von Mendix in Auftrag gegebenen Umfrage zufolge arbeiten bereits 300.000 Angestellte in der deutschen Industrie mit Low-Code-Technologien. Der Low-Code-Spezialist schätzt das Potenzial an Citizen Developern in deutschen Industrie­unternehmen auf 1,8 Millionen Beschäftigte.
Ein weiterer Grund für die zunehmende Nachfrage nach Fachentwicklern ist laut Annette Maier, Area Vice President Central & Eastern Europe bei UiPath, der Trend zur Automatisierung: „Unternehmen, die den ‚Automation first‘-Ansatz, sprich eine ganzheitliche Automatisierung umsetzen wollen, müssen sich mit abteilungsbezogener sowie individueller Automatisierung befassen.“ Dazu sei es notwendig, die Mitarbeiter aus den Fachabteilungen einzubinden: „Sie kennen ihre repetitiven Aufgaben, die sich automatisieren lassen, und entdecken so Automatisierungspotenziale, die eventuell von der IT-Abteilung unentdeckt geblieben wären.“

Leute wie du und ich

Mit der Citizen-Development-Bewegung wird ein Typ Anwender salonfähig, der bisher von IT-Abteilungen, Sicherheitsverantwortlichen und professionellen Entwicklern eher mit Skepsis gesehen wurde: Mitarbeiter, die bei IT-Problemen zur Selbsthilfe greifen. „Die Welt ist voll von Citizen-Developer-Lösungen wie beispielsweise Spreadsheets mit Makros, Lotus Notes oder Sharepoint-Apps, die auf lokalen Systemen und Servern ohne Sichtbarkeit für die Unternehmens-IT laufen“, sagt Mendix-Manager de Visser. „Citizen Developer sehen Digitalisierungspotenzial in ihrem Arbeitsalltag und schaffen sich Lösungen einfach selbst“, ergänzt Sven Zuschlag, Gründer, Vorstand und CEO des Unternehmens smapOne, das sich als „das digitale Spielzimmer für erfolgreiche Unternehmen“ bezeichnet. „Ein Citizen Developer bist du und ich und wirklich jeder!“
Zu viel Citizen-Developer-Freiheit kann allerdings auch zu Problemen führen, geben die von uns befragten Experten zu bedenken. „Wie bei allen anderen Lösungen auch, die ungeprüft und nicht zugelassen in der IT-Infrastruktur eines Unternehmens verwendet werden, können selbst entwickelte Apps Sicherheitsrisiken darstellen, ein fehlerhaftes Verhalten an den Tag legen oder zu Störungen im Betriebsablauf führen“, warnt beispielsweise OutSystems-Manager Fliege.
Und Florian Weber, Principal Solutions Consultant bei Pegasystems, sieht noch weitere mögliche Schwierigkeiten: „Es kann durch Kopien zu uneinheitlichen Datenbeständen kommen oder es treten Performance-Probleme in Backend-Systemen auf, weil Anwendungen unkontrolliert auf Funktionen und Daten zugreifen. Auch bei der Veränderung bereits im Produktiveinsatz befindlicher Applikationen entstehen schnell Inkonsistenzen, wenn Änderungen unbedacht vorgenommen werden.“ Citizen-Development-Projekte sollten deswegen immer übergreifend gesteuert werden, rät Annette Maier von UiPath: „Das Rückgrat aller Citizen-Developer-Initiativen ist das Thema Governance“, erklärt sie. „Der Zugriff auf Daten für und von Citizen Developern muss daher entsprechend geregelt sein.“ Zudem sollte jede Automatisierung, die von Citizen Developern erstellt wurde, überprüft werden, bevor diese livegeschaltet wird, fordert die Managerin.
Plattformen für die Entwicklung durch Citizen Developer sollten daher Möglichkeiten zur Definition und Überwachung von Compliance- und Sicherheitsrichtlinien sowie zur Qualitätssicherung bieten. „Wer eine Low-Code-Lösung auf die Art und Weise nutzt, wie sie vom Hersteller intendiert ist, und sich beim Einsatz an die Compliance-Richt­linien seines Unternehmens hält, hat aus meiner Sicht kaum Risiken durch Entwicklungen von Citizen Developern zu befürchten“, sagt Tino Fliege von OutSystems.

Was Citizen Developer können – und was nicht

Der Einsatz von Citizen Developern ist vor allem dort sinnvoll, wo häufig auftretende repetitive Prozesse automatisiert werden sollen. „Mit den heute verfügbaren Low-Code- und No-Code-Tools können Citizen Developer sehr gut Applikationen zur strukturierten Datenerhebung und Zusammenarbeit erstellen, zum Beispiel grafische Anwendungen auf Basis einer Datenbank“, erklärt Florian Weber von Pega­systems. „Ebenso gut digitalisieren sie Workflows und Freigabeprozesse, automatisieren Geschäftsregeln und generieren Dokumente, etwa für Reports. Dabei gestalten sie die nötigen Datenmodelle, Formulare, Prozessabläufe und Vorlagen selbst und verwalten die dazugehörige Logik in Form von visuellen Regeln.“
Experten aus den Fachbereichen können aber auch bei komplexeren Aufgaben hilfreich sein und die professionellen Entwickler mit ihrem Domänenwissen unterstützen, ergänzt Solution Architect Tino Fliege: „Diese wissen selbst am besten darüber Bescheid, wie die spätere Anwendung inhaltlich funktionieren muss, welche Aspekte berücksichtigt werden müssen und unter welchen Bedingungen die Anwendung wie reagieren muss.“
Wenn es allerdings komplizierter wird und Backend-Systeme oder Lösungen Dritter eingebunden werden müssen, dann kommen Citizen Developer zumindest alleine nicht mehr weiter.
„An dieser Stelle sollten aus meiner Sicht immer professionelle Entwickler unterstützen oder übernehmen“, empfiehlt Fliege. „Auf keinen Fall eignen sich geschäftskritische und/oder komplexe Anwendungen mit hohen Sicherheitsanforderungen“, zieht Adelhard Türling, Geschäftsführer des Microsoft-Spezialisten CRM Partners eine klare Grenze. „Zur Unterstützung der IT und um Zeit zu gewinnen, können Citizen Developer jedoch die Prototypen für solche Anwendungen erstellen, deren Weiterentwicklung anschließend die IT übernimmt.“
Citizen Developer sind vor allem dort gefragt, wo ein großer Bedarf an relativ einfach zu erstellenden Applikationen besteht.
Quelle: (Quelle: smapOne (nach Gartner 2019) )

Die richtigen Leute finden

Damit ein Citizen Developer wirklich produktiv arbeiten und vernünftige Ergebnisse erzielen kann, ist laut Tino Fliege von OutSystems eine generelle Technikaffinität sowie ein grundlegendes Verständnis dafür erforderlich, wie prozedurale Software-Entwicklung funktioniert und wie Daten strukturiert und abgespeichert werden können. „Das bedeutet nicht, dass ein Mitarbeiter bereits Erfahrung in konkreten Programmiersprachen gesammelt haben muss“, betont der Solution Architect. „Vielmehr meine ich damit ein Verständnis, welcher Logik Software-Entwicklung folgt – wie Varia­blen, Bedingungen oder Schleifen zum Einsatz kommen.“
Recruiting-Heraus­forderungen: Vor allem Entwickler mit Spezialkennt­nissen in KI oder Security sind am Markt kaum mehr zu finden.
Quelle: (Quelle: OutSystems )
Für Adelhard Türling von CRM Partners spielen aber auch soziale Kompetenzen eine Rolle: „Grundlegend ist die Fähigkeit, die Bedürfnisse und Herausforderungen auch anderer Abteilungen zu erkennen und zu verstehen“, betont der Geschäftsführer. „Am besten eignen sich dabei kreative, engagierte und neugierige Mitarbeiter, die gerne Aufgaben übernehmen, die über ihre eigentliche Arbeit hi­nausgehen.“
Geeignete Kandidaten zeichnen sich laut Pegasystems-Consultant Weber zudem durch besonders hohe Einsatzbereitschaft aus: „Citizen Developer arbeiten häufig aus eigenem Antrieb heraus. Sie bekommen eher selten die Aufgabe übertragen, eine App zu entwickeln, sondern schlagen dies ihrem Management aus eigener Initiative vor und sind zu diesem Zeitpunkt oft schon sehr gut informiert.“

Chancen für Bürgerentwickler

Das Interesse der Mitarbeiter an neuen digitalen Fähigkeiten ist groß. Laut der bereits erwähnten Mendix-Umfrage wollen 76 Prozent der deutschen Industrieangestellten mit der IT zusammenarbeiten und Software-Skills erlernen. Dafür benötigt man nach Ansicht von Sven Zuschlag im Idealfall gar kein Training.„Der No-Code-Ansatz ist so einfach und intuitiv wie Lego“, sagt der smapOne-Gründer. „Dafür braucht man erst mal keine Anleitung, sondern legt direkt los.“ Zeit und Vertrauen in die Potenziale der Mitarbeiter seien viel wichtiger als formelle Schulungen. „Sie müssen wissen, dass sie probieren, scheitern, lernen, verbessern und neu versuchen dürfen und sogar sollen.“
Andere Experten empfehlen ein strukturierteres Vorgehen: „Zunächst sollten zukünftige Citizen Developer eine umfassende Nutzerschulung für die entsprechende Low-Code-Plattform erhalten“, sagt Adelhard Türling von CRM Partners. „Dazu gehört auch der Umgang mit den diversen Low-Code-Werkzeugen.“ Auch bei OutSystems geht es nicht ohne Einführung: „Unser sogenanntes Guided Training sollte (…) auf jeden Fall absolviert werden“, sagt Solution Architect Tino Fliege. Über diese Schulung erweitern Anwender im Lauf mehrerer Wochen Schritt für Schritt ihre Fähigkeiten. „Zu Beginn ist das vielleicht noch ein kleines Tool wie eine interne To-do-Liste oder eine App, die genutzt werden kann, um Urlaubsanträge zu genehmigen“, erläutert Fliege. Solche Anwendungen ließen sich bereits nach zwei Trainingswochen problemlos erstellen. „Um hingegen eine geschäftskritische Anwendung zu schreiben, ist eine deutlich umfassendere Einarbeitungszeit erforderlich.“

Fazit & Ausblick

Mitarbeiter greifen bei Computerproblemen zur Selbsthilfe. Na und?, könnte man fragen – das tun sie, seit uns PCs die tägliche Arbeit erschweren. Das wirklich Neue an Citizen Development ist deshalb nicht das Dass, sondern das Wie. Low-Code-/No-Code-Plattformen stellen heute wesentlich bessere, umfangreichere und leichter zu bedienende Programmiermöglichkeiten zur Verfügung, als dies mit VBA oder Shell-Skripten bislang der Fall war.
Darüber hinaus lenken sie die Kreativität der Fachanwender in geordnete Bahnen und reduzieren das Risiko von Sicherheitsproblemen oder Compliance-Verstößen. Vor allem aber machen sie die Lösungen der Laien anderen zugänglich. Einmal gefundene Antworten auf immer wiederkehrende Fragen lassen sich unternehmensweit einsetzen und über den einzelnen Anwender oder die Fachabteilung hinaus skalieren.
Wenn dann die „professionellen“ Entwickler einen Teil ihres Standesdünkels aufgeben und mit den Anwendern aus den Fachabteilungen auf Augenhöhe zusammenarbeiten, kann das Konzept des Citizen Developments durchaus einen wesentlichen Beitrag zur digitalen Transformation leisten.

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