Glosse

Warum Untermeitingen der Nabel der Welt ist

von - 09.03.2022
Untermeitingen
Foto: Onlinestreet
Mit einer Flut von rätselhaften Anzeigen treiben Websites die Nutzer langsam, aber sicher in den Wahnsinn. Warum deren Betreiber das zulassen, bleibt rätselhaft.
In Untermeitingen tun sich erstaunliche Dinge. Gestern las ich, dass dort unverkäufliche SUVs nahezu verschenkt würden. Zudem ist die 6.500-Seelen-Gemeinde im Landkreis Augsburg der Ausgangspunkt einer Revolution im Hörgerätebereich, stand auf einer anderen Website. Eine neue Diät, so schrie mich unlängst eine Schlagzeile an, würde in Untermeitingen die dortige Bevölkerung in Ekstase versetzen. Und gerade lese ich auf der Website der Münchner Boulevardzeitung "TZ" die neueste Sensation: In Untermeitingen würden junge Unternehmer daran arbeiten, das Beerdigungsgewerbe komplett auf den Kopf zu stellen.
WTF?
Untermeitingen hat zwar eine Kirche und einen dazugehörigen Friedhof. Unternehmen, die dort im Bestattungsgewerbe aktiv sind, kennt Google Maps jedoch nicht. Im Ort sind auch weder Hörgeräteakustiker noch Diät-Anbieter verzeichnet. Einen Autohändler scheint es zu geben, aber der verschenkt keine SUV.

Untermeitingen ist überall

Die Lösung: Hinter diesen Schlagzeilen verbergen sich automatisch generierte Clickbait-Anzeigen von Diensten wie Taboola oder Outbrain. Wieso sie mich, der sein Homeoffice am Stadtrand von Augsburg hat, ausgerechnet mit Untermeitingen triggern wollen, erscheint unklar. Meine Vermutung: Meine IP-Adresse stammt aus einem Nummernblock, der dem Landkreis Augsburg zugeordnet ist, und in dessen geografischer Mitte eben dieses Straßendorf liegt. Gehe ich in der Redaktion in München online, lese ich auffällig häufig Schlagzeilen aus Ulm - dort hat die IT unseres Verlages ihre Server stehen.

"Das Vermögen von Hein Schnittenfittich hat uns wirklich entsetzt" 

Gemein ist all diesen als redaktionell getarnten Anzeigen ihre komplette Unseriosität. So führt ein Klick auf die Headline "Bestattungen in Untermeitingen: Junges Unternehmen krempelt die Branche um" auf die Seite von Bestattungskosten.org, hinter der Seite steckt trotz ihrer .org-Domain kein gemeinnütziger Verein, sondern die Firma Everlife aus Berlin - von Untermeitingen ist auf der gesamten Seite keine Rede mehr.
Doch der vermeintliche Regionalbezug im Anzeigenlink ist nicht der einzige Kniff, mit dem die Ad-Networks die Aufmerksamkeit der Nutzerschaft missbrauchen. Gern wird auch gefragt, ob man den Partner sehen wolle, mit dem (B-Promi-Namen bitte einsetzen) jetzt zusammen sei. Häufig auch die Schlagzeilen "Das Vermögen von (B-Promi-Namen bitte einsetzen) hat uns wirklich erschüttert" oder "Heute ist (B-Promi-Namen bitte einsetzen) nur noch ein Schatten seiner selbst."
Als "Ottonormalsurfer" bin ich von diesem galoppierenden Schwachsinn genervt - als Medienmann bin ich entsetzt. Egal ob "Augsburger Allgemeine Zeitung", ob "Golem.de" oder "T-online": Alle möglichen Medienmarken mit einem Ruf, der nun wirklich nicht der schlechteste ist, schmuggeln diesen geballten Unsinn zwischen ihre durchaus ernsthaften Meldungen. Da steht dann auf T-online.de der Teaser für ein Video über die Verärgerung des ukrainischen Botschafters Andrej Melnikov über SPD-Politikerin Manuela Schwesig direkt neben einer Klick-Baiting-Strecke mit der Headline "Echt schade: 60 Namen, die in Vergessenheit geraten sind".
So wird das schmale Aufmerksamkeitsfenster des Nutzers mit Unsinn verkleistert - und jede News-Website sieht aus wie ein unseriöses Yellowpress-Angebot. Da darf sich dann auch keine Medienmarke wundern, wenn ihre Nutzer zum Ad-Blocker greifen - und an den Abschluss eines Online-Abos nicht einmal im Traum denken.
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