Die Digitalisierung ist nicht aufzuhalten

Der Kunde ist meist schlauer als die Verkäufer vor Ort

von - 12.01.2016
com! professional: Sie sagen, klassische Geschäftsmodelle werden prinzipiell verändert. Aber handelt es sich nicht eher um Varianten dieser Geschäftsmodelle, die am Prinzip gar nichts oder nicht viel verändern? Ein Reisebüro verkauft ja immer noch Reisen plus etliche Zusatzvergnügen. Buchläden gibt es immer noch, selbst in den USA oder in Großbritannien, wo die Buchverkäufe über das Internet besonders stark angestiegen sind. Und es gibt neue, sehr interessante und spezialisierte Läden.
Reisen: Das große Geld machen künftig Portale, Reisebüros werden nur in der Nische überleben.
Reisen: Das große Geld machen künftig Portale, Reisebüros werden nur in der Nische überleben.
Schieck: Ja, das ist richtig. Sicher werden diese Läden in der Nische über­leben, aber das große Geschäft wird von anderen unter Einsatz der neuen Methoden gemacht werden. Wenn man das noch weiterdenkt, werden mit dem Internet neue Vertriebs- und Geschäftswege hinzukommen. So wird meine Nespresso-Maschine in Zukunft einen Knopf haben, auf den man einfach drückt, und ein paar Stunden später werden frische Kapseln angeliefert. Der Umweg über meinen PC oder mein mobiles Gerät entfällt dann. Unser gesamtes wirtschaftliches Ökosystem wird sich durch diese Entwicklung verändern. Zwischenhändler werden ausgeschaltet, weil dieser direkte Nachschub auch vom Hersteller selbst kommen könnte.
com! professional: So sieht das allgemeine Konzept der Digitalisierung aus. Wie steht es jetzt mit Ihrer Branche? Verändert die sich auch total?
Schieck: Ja, unbedingt. GREY ist im Kern eine Kommunika­tionsagentur mit hoher strategischer Kompetenz. Wir sind etwa durch Aktionen wie das HB-Männchen („Wer wird denn gleich in die Luft gehen…“) oder  Boris Becker mit AOL („Bin ich da schon drin, oder was?“) bekannt geworden und haben Marken wie E.ON oder o2 in den Markt eingeführt. Das waren alles sehr strategisch-kommunikativ getriebene Ansätze für Werbung hauptsächlich in Massenmedien. Mit den neuen Möglichkeiten verändern sich die Touchpoints. Früher war es einfacher zu analysieren, wo man einen Werbefilm schalten musste – und erreichte damit an die 20 Millionen Zuschauer – womit die Botschaft platziert war. Heute ist das viel schwieriger. Manche Branchen und Medien funktionieren noch sehr gut, etwa für ältere Zielgruppen: Wenn man da am Abend zur Primetime einen altersspezifischen TV-Werbespot schaltet, gehen auch am nächsten Tag die Umsatzzahlen für das beworbene Produkt oder die Marke nach oben.
com! professional: Ist das der Trend?
Schieck: Bei anderen Produkten und Zielgruppen funktioniert das immer weniger so. Hier muss man erst einmal die Vielzahl der möglichen Kanäle analysieren und sich fragen „Wie mache ich dieses Produkt oder diese Marke begehrlich?“ Es kommen neue digitale Kanäle hinzu – neue Musik- oder TV-Anbieter wie Netflix – und die Customer Journey, wie wir das nennen, wird immer komplizierter. Während ein Kunde früher in einen Laden ging und sich dort die Objekte seiner Begierde kaufte, hat sich das Verhalten geändert. Wahrscheinlich informiert er sich erst einmal bei Google, Amazon oder einem anderen großen Informationsträger und stellt Preisvergleiche an. Geht er dann in einen Laden, ist er meistens schon schlauer als die Verkäufer vor Ort.
Bin ich da schon drin? Für den AOL-Werbespot mit Boris Becker Ende der 1990er-Jahre war GREY verantwortlich.
Bin ich da schon drin? Für den AOL-Werbespot mit Boris Becker Ende der 1990er-Jahre war GREY verantwortlich.
(Quelle: AOL Werbespot )
com! professional: Verallgemeinern Sie da nicht etwas?
Schieck: Wir gehen davon aus, dass das die Realität trifft. Und die Unternehmen – Hersteller und Händler – müssen sich dieser Realität stellen. Die Frage ist doch: Wie geht man damit um? Wie kommuniziert man mit dem potenziellen Kunden? Wo muss man seine Botschaft platzieren? Mindestens ebenso wichtig ist der Erwerb des dafür nötigen technischen Wissens. So gibt es zum Beispiel heute Technologien, die Banner am PC, Tablet oder Smartphone automatisch zusammensetzen, je nachdem was man schon über den jeweiligen User weiß. Hier ist sehr viel im Fluss. Auch wir als Agentur müssen uns entsprechend weiterentwickeln.
com! professional: Wie genau definieren Sie „Touchpoints“?
Schieck: Ein Touchpoint ist – grob gesagt – jener Moment, in dem ein Verbraucher mit einer Marke oder einem Produkt in Kontakt tritt, zum Beispiel am Regal am PoS (Point of Sale). Der Kunde steht vor dem Regal und greift zu einem bestimmten Produkt. Dass er genau dieses Produkt nimmt und kein anderes, versuchen wir mit unserer Expertise zu beeinflussen. Wir liefern Argumente und Hinweise, warum dieses Produkt das beste am Markt ist, und im entscheidenden Moment wirkt sich das aus.
Interessant sind in diesem Zusammenhang die neuen technischen Möglichkeiten durch zusätzliche Touchpoints wie das Handy und andere mobile Geräte, etwa im Auto. Der Kunde kann heute den Barcode am Produkt scannen und an Ort und Stelle Preisvergleiche anstellen. Oder zukünftig im Auto auf besondere Aktionen hingewiesen werden. Weitere Touchpoints befinden sich zu Hause, wo man sich am PC, Notebook oder Fernseher über einzelne Produktmerkmale informieren kann. Online-Shops oder soziale Netzwerke gehören ebenfalls in dieses Schema von Touchpoints wie Außenwerbung an Straßen, Bahnhöfen oder Flugplätzen.
com! professional: Als Agentur müssen Sie sich demnach mit einer Vielzahl an Touchpoints, Technologien und Funktionsweisen von Beeinflussung auseinandersetzen. Was hat sich bei Ihnen durch diese Entwicklungen verändert?
Schieck: Grundsätzlich haben wir es hier mit einem großen Change-Prozess zu tun. Das bedeutet, wir haben es auch damit zu tun, dass Menschen ganz prinzipiell relativ veränderungsunwillig und träge sind – nach dem Motto „Wir haben es immer so gemacht, warum sollen wir da was ändern“. Change hat sehr viel mit Psychologie, Abholen, Begleiten und Vorleben von Visionen zu tun. Es geht auch um Leadership, was wir an der Rolle und der Bedeutung von Steve Jobs gesehen haben. Mit seinen Visionen und Fähigkeiten hat er es geschafft, andere Personen hinter sich zu bringen und den Apple-Produkten so etwas wie einen Kultcharakter zu verschaffen. Die Führungskräfte anderer Unternehmen müssen sich mehr und mehr den Herausforderungen dieses Change-Prozesses stellen, wenn sie mithalten wollen.
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